Anders als die andern: Sophie Scholl war ein glühendes Hitlermädel mit „Herrenschnitt“, rauchte und schwankte zwischen Selbstdenken und Gottsuche.

Alles Licht auf Sophie Scholl? Andere Mitglieder der „Weißen Rose“ waren eigentlich wichtiger für die Widerstands-Aktionen der Gruppe, die Flugblätter, die Wandparolen, die Briefe. Aber Sophie Scholl ist zu ihrer Ikone geworden. Noch vor ihrem Bruder Hans, der 1942 zusammen mit seinem Freund Alexander Schmorell die ersten vier Flugblätter entworfen und verteilt hatte. Sophie Scholl wurde erst danach in den inneren Kreis der Widerständler aufgenommen, so wie Medizinstudenten Christoph Probst und Willi Graf oder der Kunstpsychologie-Professor Kurt Huber. Aber in der Walhalla zu Donaustauf, wo bedeutende Deutsche mit Büsten geehrt werden, steht allein die von Sophie Scholl.

Die Ehrfurcht vor ihr gilt wohl dem enormen Mut, mit dem sie ihr 21 Jahre junges Leben aufs Spiel setzte. Und sie gilt nicht zuletzt ihrem nicht gelebten Leben, das mit jenem Augenblick des 22. Februars 1943 begann, in dem der Henker den Mechanismus der Guillotine betätigte. Aber die staunende Bewunderung für sie rührt wohl auch daher, dass man zu ihrer Zeit (und in der frühen Bundesrepublik, als die Verehrung für sie begann) eine politische Haltung oder gar politische Arbeit von einer Frau schlicht nicht erwartete.

„Möglichst ohne Kamm leben“ – Spitzname: „Soffer“

Sophie Scholl war allerdings schon früh anders als die andern. Schon in der Grundschule soll sie aus Gerechtigkeitsgefühl für ihre ältere Schwester Elisabeth eingetreten sein. „Sie war wie ein feuriger Junge“, erinnerte sich nach dem Krieg eine Freundin, „trug die dunkelbraunen glatten Haare im Herrenschnitt“ – eine Provokation in der Provinz – „und hatte mit Vorliebe eine blaue Freischarbluse oder eine Winterbluse ihres Bruders an. Sie war lebhaft, keck, mit heller Stimme, kühn in unseren wilden Spielen u von einer göttlichen Schlamperei“ und wollte „möglichst ohne Kamm leben“. Sie rauchte Zigaretten und Pfeife, trank Alkohol, fuhr Auto. Spitzname: „Soffer“.

Bei all dem hatte sie den Rückhalt ihrer Eltern. Den ihrer liebevollen, ausgeglichenen emsig um das Wohlergehen ihrer Kinder Inge, Sophie, Elisabeth, Hans und Werner Scholl bemühten Mutter, die als ehemalige Diakonisse zutiefst im Christentum ruhte – wie auch den ihres Vaters, eines fortschrittlichen, liberalen Freigeistes. Das Familienmotto: Goethes „Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten“. Als überzeugter Pazifist hatte Robert Scholl im Ersten Weltkrieg als Sanitäter gedient und wurde dann Bürgermeister, Steuerfachmann und Geschäftsführer an verschiedenen Orten in Schwaben, bevor die Familie in Ulm sesshaft wurde. Robert Scholl hatte nicht nur den „Hohenloher Boten“ abonniert, sondern auch die „Frankfurter Zeitung“. Es wurde viel und gründlich diskutiert im Hause Scholl, und der Vater war entsetzt, als seine Kinder Hans und dessen Schwestern voller Begeisterung in die Hitlerjugend eintraten – und jahrelang dabeiblieben, bevor eine Mitgliedschaft zur Pflicht wurde. Trotzdem bezahlten die Eltern die nötigen Uniformen.

Kleinkalibergewehre und Ringkäpfe in der Hitlerjugend

Die Hitlerjugend verströmte die Aura einer jung-dynamischen, anti-elitären Erneuerung und hatte Abwechslung samt Abenteuern zu bieten: Lagerfahrten, zum Teil bis nach Lappland, oder Heimabende mit gemeinsamem Sport, Singen, Theaterspielen, Basteln. Auch die Mädchen kletterten auf Bäume, schwammen viel (Sophie konnte an keinem Gewässer vorbeigehen, ohne wenigstens den Fuß hineinzuhalten), sie gingen in Ringkämpfe und schossen sogar mit Kleinkalibergewehren. Sie lernten, sich für ihre Ideale bis zum letzten einzusetzen und Opfer zu bringen. Im Mai 1935 wurde Sophie Jungmädelführerin, zuständig für ein Dutzend Jüngere, auch der Wahlspruch „Jugend führt Jugend“ begeisterte sie. Eins der Mädchen erinnerte sich später, sie sei „sehr fanatisch für den Nationalsozialismus“ gewesen – aber mit einem Schuss Kommunismus: Bei Ausflügen wurde aller Proviant eingesammelt, um ihn zu teilen, und alles Geld, um Sprudel für alle zu kaufen.

Überhaupt liebten die Scholl-Kinder an der HJ alles, was die Nachwuchsschmiede der Nazis von der bündischen und Wandervogel-Jugend übernommen hatte, nicht aber den Drill, das Prinzip aus Befehl und Gehorsam, die geradezu gläubige Indoktrination. Hans wurde gar wegen des Verdachts homosexueller Handlungen verhaftet, Sophie stellte man kalt, als sie eine Standarte mit Runen statt mit einem Hakenkreuz verzierte. Als ihr Vorschlag, Heinrich Heine zu lesen, abgebügelt wurde mit dem Hinweis, er sei Jude, kapitulierte sie trotzig: „Wer Heine nicht kennt, kennt die deutsche Literatur nicht!“ Gleichwohl blieb sie bis 1941, bis zu ihrem Kindergärtnerinnen-Staatsexamen in der HJ.

Andere redeten über Männer und Sex, sie las heimlich im „Zauberberg“

Mit der Ausbildung hatte sie nach dem Abitur erhofft, um den Reichsarbeitsdienst herumzukommen. Aber sie musste dann doch mit Dutzenden Gleichaltrigen bei Bauern auf der Schwäbischen Alb schuften, wobei die Arbeit für sie nicht das Schlimmste war: Dass die anderen jungen Frauen nur über Frisuren, Mode und oft auch derb über Männer und Sex redeten, widerte sie an, sie las heimlich (Bücher waren verboten) in Thomas Manns „Zauberberg“, übersetzte ein französisches Buch und verstieß heimlich gegen das Rauch-Verbot.

Sophie hatte schon mit 15 hatte einen ersten Freund, sie spielte lange Katz und Maus mit ihm, ein Jahr später verliebte sie sich im Zeltlager in einen Jungen aus Bottrop und 1942 auch kurz in Alexander Schmorell („Schurik“) – so heftig und unerwidert, dass sie eine Seite aus ihrem Tagebuch herausriss. Und seinen Namen dann doch wieder hineinschrieb.

Die große, aber immer schwierige Liebe: Fritz Hartnagel

1937 hatte sie sich in den späteren Berufssoldaten Fritz Hartnagel verliebt, der noch am Tag ihrer Hinrichtung ein Gnadengesuch stellen wird in der vergeblichen Hoffnung, die Bitte eines schwer verwundeten Frontsoldaten hätte Gewicht. Die beiden wurden ein Paar, gingen gemeinsam auf Reisen, schrieben ein­ander unaufhörlich und erlebten viele Beziehungskrisen. Aber nur eine ging von Hartnagel aus, als er 1940 von einem Verhältnis mit einem „jugoslawischen Mädchen“ in Amsterdam berichtete: Er habe dem Trieb nicht widerstehen können. Sie hatte sich 1938, mit 17, für „zu jung“ erklärt, hielt Sexualität aber auch später noch für etwas Niederes und fragte Fritz Hartnagel, ob er nicht glaube, dass Verstand und Spiritualität den Trieb besiegen könnten. Sie, Idealistin durch und durch, wollte eine platonische Liebe. Mal wollte sie Nähe, mal Distanz, und wenn Hartnagel sich von ihr abwandte, band sie ihn wieder an sich.

Vor ihm hielt sie ihre Widerstandsgruppe geheim; aber er lieh ihr anstandslos die horrende Summe von 1000 Reichsmark „für einen guten Zweck“ – das war fast ein halbes Durchschnitts-Jahreseinkommen. Den erbetenen Bezugsschein für einen Vervielfältigungsapparat verschaffte er ihr nicht, er fürchtete „eventuelle Unannehmlichkeiten“.

„Tot“, „stumpf“, „wie eine Wüste“ – depressive Episoden und Entschlossenheit

In ihren Tagebucheinträgen und Briefen zeigt sich Sophie Scholl immer wieder sehr unstet: Manchmal ist ihr die Gesellschaft eines Menschen zu wenig, manchmal ist sie am liebsten ganz allein. Sie grübelt in Briefen und Tagebucheinträgen über Glaubensdinge und philosophische Fragen wie die Rechtfertigung für das Böse in der Welt, und manchmal scheint es, als wolle sie nicht zu einem Schluss kommen, sondern vor allem Grübeln. Ihr Ideal eines durch und durch persönlichen Verhältnisses zu Gott erreichte sie nicht, sie empfand sich in dieser Hinsicht als „tot“, „stumpf“, „wie eine Wüste“ oder „dürrer Sand“ sei ihre Seele. Ja, ihre Stimmung nahm, auch in den Monaten vor der selbstmörderischen Aktion in der Münchner Universität, zuweilen depressive Züge an. „Manchmal bin ich versucht, die Menschheit für eine Hautkrankheit der Erde zu halten.“

Ein Attentat auf Hitler hielt sie für gerechtfertigt, sie glaubte an den Sinn von Taten, die ein Fanal zum Aufstand werden könnten, zumal sich ihr Bekanntenkreis fast nur noch aus Hitler-Gegnern zusammensetzte. „Und wenn es Männer nicht machen“, sagte sie im Dezember 1942, „muss es eben eine Frau tun“.

Miriam Gebhardt: Die Weiße Rose. Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden. DVA, 367 S., geb. 19,99 Euro, brosch. Pantheon, 13 Euro. Robert M. Zoske: Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen. Propyläen, 448 S., 24 Euro. Werner Milstein: Einer muss doch anfangen! Das Leben der Sophie Scholl. Gütersloher Verlagshaus, 207 S., 15 Euro. Maren Gottschalk: Wie schwer ein Menschenleben wiegt: Sophie Scholl. C.H.Beck Verlag, 347 S., 24 Euro. Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biografie. Insel Taschenbuch, 493 S., 14 Euro.