Soest. Zwischen furchtbar und fruchtbar ist es manchmal nur ein schmaler Grat. Das Soester Liebes Leben Museum in Zeiten von Corona – zum Valentinstag.
Noch einmal mit Gefühl, bitte! Ein Luftschutzbunker ist kein Liebesnest, doch wenn ein Museum schon „Liebes Leben“ heißt, wollen wir zum Valentinstag einen Blick in die Ausstellung werfen, die in Soest tatsächlich in einem solchen per se eher unsinnlichen Weltkriegsrelikt beherbergt ist. Statt Plüsch und Plunder also Putz und Pädagogik – roh und rau sticht romantisch. Na, das wollen wir doch mal sehen…
Sehen kann man es allerdings aktuell nur online, das jedoch erstaunlich gut. Ein virtueller Rundgang, wie er in Zeiten der Pandemie, aber auch angesichts des allgegenwärtigen Flockdowns im Winter 2021 zur zwangsläufig erprobten Handübung geworden ist. Ein Genuss leider nicht für alle Sinne, wie man sich in diesem gefühlsechten Genre vorstellen könnte, denn die Führung am Monitor ist ohne Ton. „Je t’aime“ oder „Love is in the air“ wären ein passender Soundtrack, der sich dann halt vor dem geistigen Ohr abspielen muss.
Wann wurden Sie aufgeklärt?
Immerhin, als Reiseleiter bietet sich Erwin Göckeler-Leopold an. Begründer, Bunkerbesitzer – und Gynäkologe. „Da kommen Beruf und Berufung in idealer Weise zusammen“, erklärt der 61-Jährige, der hier 500 Exponate auch aus seiner Praxis präsentiert: die erste Pille aus Deutschland-West (1963, „Antibabypille“) und jene aus Deutschland-Ost (1964, „Wunschkindpille“). Oder auch ein Spekulum genannter Scheidenspiegel mit Ebenholzgriffen – heute, aus Gründen, ein medizinischer Einmalartikel.
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Man möchte den Kopf einziehen in den hell getünchten Gängen des historischen Betontrums, die zweckgemäß nicht hoch sind, aber viele Türen zu noch mehr Räumen haben. Die Regenbogenfahne als Symbol der Vielfalt weist gleich den Weg: Hier wird’s aufklärerisch! „Wann wurden Sie aufgeklärt?“, will auch schon der nächste Aushang wissen, der die Nummer mit den Störchen nicht gelten lässt. Dahinter steckt nicht von ungefähr der gemeinnützige Verein zur Förderung der Gesundheitsfürsorge und Aufklärung. Oswalt Kolle, noch so ein Aufklärer der Nation, und sein „Wunder der Liebe“ (zweiter Teil, sexuelle Partnerschaft, verziert mit einem laufenden Meter Blümchentapete) wollen dabei nicht fehlen.
„Homosexuelle Männer dürfen nur eingeschränkt Blut spenden“, steht da auch und plakativ dazu, was davon zu halten ist: „Diskriminierung wegen sexueller Orientierung“! Gut, dass es einen Raum für Respekt gibt, in dem auch Toleranz und Akzeptanz ein Zuhause finden. Das Schuhregal deutet auf Fetisch hin, meint aber die Frage an sich selbst: Wie ist es, in des Anderen Schuhe zu schlüpfen? Und wenn schon: jeder nach seiner Fasson – wer verliert da heute noch die Fassung? „Vorurteile haben wir alle“, sagt Göckeler-Leopold, sich damit auseinanderzusetzen und das eigene Bild von Diversität womöglich in Frage zu stellen, sei aber eben ganz wichtig. „Es geht um selbstbestimmte Sexualität.“ Am interaktiven Glücksrad lässt sich von dem eigenen Endgerät natürlich nicht drehen, doch die Quintessenz erreicht auch so Herz und Hirn: Niemand hat sein Schicksal freiwillig gewählt. Man darf auch unangenehm berührt sein, ohne angefasst zu werden.
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Disco im Schritt
Dass Gesellschaftspolitik durchaus unterhaltsam sein kann, vielleicht sogar Humor hilft bei der Botschaft, beweisen Aushänge der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die mittels geschickter Navigation leidlich lesbar sind: „Disco im Schritt? Dein Arzt hilft!“ Tripper, ick hör dir trapsen. Was war der Initiator nochmal von Beruf…
Und wer, gleich neben Ralf Königs Filmposter „Kondom des Grauens“, die Lümmeltüten-Lithographie (anfangs, 2011, firmierte das Projekt noch unter Deutsches Verhütungsmuseum) mit dem jungen, stirnbandrundbebrillten Ingolf Lück erspäht, der möchte gleich wie Hella weiland von Sinnen „Tinaaa, wat kosten die Kondome?“ durch den ganzen Bums brüllen. Versuchen Sie das mal in einem richtigen Museum – beziehungsweise in diesem Museum, was ja ohne den Mutantenstadl da draußen ein richtiges ist, aus voller Kehle am Heimcomputer. Befreit. Danke fürs Stichwort, ganz nebenbei. Denn ganz nebenan hat es das Virus auch schon in diese gewaltigen Gemäuer geschafft. „Corona und was man bisher weiß“ schautafelt es, und die „Parallelen zu HIV“ liegen auf der Hand: Verleugnung und Verschwörung. Wie steht es denn mit Liebe in Zeiten von Covid und Co.? Der Frauenarzt schwankt zwischen furchtbar und fruchtbar: „Da beobachte ich zwei Phänomene. Durch die Einschränkungen gibt es verstärkt häusliche Gewalt. Dafür beschäftigt man sich wieder mehr mit dem eigenen Partner – die Schwangerschaften nehmen bei uns deutlich zu.“
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Die rote Couch und das blaue Gefährt
Auf die Romantik wollten wir doch eh gerade noch zu sprechen kommen. Die rote Couch in der zweiten Etage ist da doch schon mal sehr einladend. Sie gibt den Blick frei auf eine Wand für Notizen, wie sie auch an einer Bushaltestelle oder Schultoilette zu finden ist. „Melle liebt Ralle“ liest sich da, und, gleich den Liebesschlössern, gerne ein gemeinsames Datum verewigt; so in „Karsten und Claudia – seit dem 28.9.1980 ein glückliches Paar“. Ende offen, da schwingt immer Glauben und Hoffnung auf die große, die unendliche Liebe mit.
Eine kleine Zeitreise erlaubt auch ein blaues Fliewatüüt, das sich als mit Hingabe restauriertes Rummel-Flugzeug von der Soester Allerheiligenkirmes herausstellt, aus dem Jahr 1968. Generationen von Kindern und Eltern kennen das Fahrgeschäft als Babyflug – im westfälischen Sprachraum vielmehr „Babyfluch“. Auch hier wird aus Spaß Ernst: Ist es eigentlich in Ordnung, dass Nachwuchs nicht nur bedingungslos glücklich machen, sondern auch mal aber auch so richtig nerven kann? Spoiler: Ja, absolut!
Zum Kernthema Reproduktion in Planung: die App etwa oder einen Raum einzurichten als begehbare, „gemütliche“ Gebärmutter mit hörbarem Herzschlag und haptischen Erfahrungen sowie Wissen über die Entwicklungsstadien eines Embryos, die komplette Reise ins Ich.
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Anders als in Disneyland landen Besucher am Ende nicht im Shop, sondern können beim Quiz erlangtes Wissen testen. Der Kandidat hat 100 Punkte, wenn er weiß, dass Sex-Pionierin Beate Uhse ursprünglich den Beruf der Stuntpilotin ausübte, Mädchen sehr wohl in der Pubertät ein Penis wachsen kann und früher tatsächlich Frösche in der Apotheke zum Schwangerschaftstest eingesetzt wurden. Eine Erfahrung, das, allemal, ach was: ein Erlebnis.
LIEBES LEBEN MUSEUM Verein zur Förderung der Gesundheitsfürsorge und Aufklärung e.V. im alten Hochbunker Lütgen, Grandweg 9a, 59494 Soest, liebesleben-museum.de (0 29 21 / 380 4 880)