Essen. Im Lockdown haben wir Menschen aus den Augen verloren, die wir nur locker kennen, die wir aber mögen. Über die Wichtigkeit von losen Bindungen.
Wo ist eigentlich Lothar geblieben? Lothar? Den kennt man doch! Das ist der grauhaarige Typ mit Schnäuzer, der in meiner Lieblings-Pizzeria jedes, ja wirklich jedes Mal abends gesessen hat, wenn man vorbeikam, und allein in Antipasti, Thunfischsalat oder manchmal in der Lasagne gestochert und dabei telefoniert hat. Lothar, der dabei ganz oft seine Freundin („Ja, ich vermiss dich doch auch, wir sehen uns ja in ein paar Tagen wieder!“) am Handy hatte. Er grüßte seit langem freundlich, auch wenn man noch nie einen längeren Satz miteinander gewechselt hat. Man kennt sich eben. Und hat mitbekommen, dass der Lothar eben der Lothar ist.
Ich habe Lothar seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen, weil wir uns eben kennen, aber keine Freunde sind. Weil man beim Italiener derzeit eher etwas bestellt – und wenn Pizza, Nudeln oder Salat vor der Türe stehen, dann denkt man gelegentlich an Lothar. Es sind die lockeren Bindungen im Alltag, die uns in Zeiten von Lockdown und Homeoffice, von Zuhausebleiben und der sogenannten neuen Normalität abhandengekommen sind.
Das ganze zwischenmenschliche Drumherum bei der Arbeit fällt weg
Auch daran merkt man: Unser Sozialleben hat sich im Laufe der vergangenen zwölf Monate verändert. Klar, die Familienmitglieder sieht man ja noch, wenn nicht real, dann hoffentlich per Videoschalte oder spricht sich am Telefon. Was auch die Kommunikationswege sind, auf denen man am direktesten die Arbeitskollegen trifft – und da merkt man erst, wie schön es ist, manchmal die lebendigen Gesichter all derer zu sehen, die man derzeit zwangsweise eher aus Mails und Chatprogrammen kennt.
Auch bei der Arbeit fällt auf: Das ganze zwischenmenschliche Drumherum fällt weg. Wir sehen uns in unseren kleinen Arbeitsteams. Aber einer wie Ben? Der fehlt mir.
Klar, Ben kennen Sie jetzt vermutlich nicht. Er ist einer unserer Kantinenköche. Und wären die Zeiten normal, würde man sich zwei-, dreimal in der Woche freuen, weil Ben für alle Gäste an seiner Theke immer einen lockeren Spruch oder ein Späßchen hat, während er mit ebenso viel Liebe wie Freude sein Spezialgericht Shakshuka serviert oder einen mediterranen Fladen mit allen Sonderwünschen belegt. Ben ist zwischendurch immer noch dort, in der Kantine – nur ich sitze im Homeoffice. Deshalb habe ich ihn einfach mal angerufen.
Menschen brauchen Menschen
Natürlich, sagt Ben, der mit vollem Namen Fehmi Ben Tahar (45) heißt, was ich vorher auch nicht wusste, natürlich vermisst er viele bekannte Gesichter – und auch einige Arbeitskollegen, die er seit Wochen wegen der Schichtpläne nicht gesehen hat. In diesen Zeiten arbeitet man möglichst kontaktarm. Und noch mehr vermisst Ben: „Ich trainiere die B-Jugend im Fußball, mein Sohn spielt auch mit. Und im Moment sehen wir uns alle gar nicht mehr, sondern tauschen uns nur über WhatsApp aus. Ich freue mich schon, wenn das wieder vorbei ist.“
Klar, Menschen brauchen Menschen. Warum das so ist, hat Gründe, die man schon in der Evolution finden kann: „Wir nennen das in der Psychologie Anschluss und Bindung. Dieses Bedürfnis hat zwei Wurzeln. Die eine: In einer Gruppe überlebt man länger. Das sind eher die er loseren Bekannten, mit denen wir uns umgeben. Die andere: Dass wir für den Erhalt unseres Nachwuchses sorgen“, sagt Marlies Pinnow (61), Leiterin der Arbeitsgruppe Motivationspsychologie an der Ruhr-Uni Bochum. Der Mensch gehört zu den sozialsten Lebewesen auf dem Planeten. Daraus ziehen wir Nutzen. „Wir Menschen sind ja mit relativ begrenzten Mitteln ausgestattete Lebewesen, aber trotzdem sehr erfolgreich. Und das hat damit zu tun, dass wir in der Vergangenheit immer kooperiert haben. Das hilft uns auch, mit unserer Umwelt besser klarzukommen. Und je besser man kooperiert, desto erfolgreicher ist man“, sagt Pinnow.
Dass Menschen das Bedürfnis haben, andere Menschen zu sehen, kann man auch körperlich feststellen. „Es gibt ja hormonelle Grundlagen dafür. Wenn wir Kontakt zu Menschen haben, wird Oxytocin ausgeschüttet“, sagt Pinnow. Der Botenstoff wird landläufig auch als Kuschelhormon bezeichnet.
Auch der beste Freund sitzt nicht jeden Abend bei einem in der Küche
Dabei muss der Kontakt gar nichts mit Kuscheln zu tun haben, sondern kann ganz sachlich bleiben: „Ich halte normalerweise neben meiner Haupttätigkeit regelmäßig Vorträge zu historischen Themen. Im Anschluss dazu gibt es dann in der Regel eine sehr lebhafte Diskussion mit den Teilnehmern. Das ist etwas, was ich im Moment vermisse“, berichtet Ulrich Morgenroth, Kulturreferent aus Velbert.
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Umgekehrt wird der Mangel an zwischenmenschlichen Kontakten oft als unangenehm empfunden, nicht umsonst gilt Isolationshaft als besonders harte Form der Bestrafung. Das Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenseins beginnt mitunter auf einem niedrigeren Niveau – gerade, wenn man Single oder verwitwet ist: „Wenn ich ansonsten allein lebe und mir mein Leben so eingerichtet habe, dass ich mittags immer ins Café gehe oder im Restaurant esse, wo es nette Bedienungen und Gäste gibt, ist das für mich eine wichtige Sache. Das ist dann ein großer Teil meiner sozialen Beziehungen. Selbst wenn ich außerdem noch genügend Freundschaften habe. Denn meist gestalten sich Freundschaften ja auch nicht so, dass der beste Freund auch jeden Abend bei mir in der Küche sitzt“, sagt Horst Heidbrink (69), Freundschaftsforscher und Lehrbeauftragter an der Fernuni Hagen.
Mit besseren sozialen Kontakten lebt man länger
Feste Strukturen, die mit sozialen Kontakten verbunden sind, spielen auch fernab des Ausgehens eine große Rolle: „In meinem Sportstudio habe ich einige flüchtige Bekannte, die ich vermisse. Da ist meine Mitturnerin bei der Wirbelsäulengymnastik, mit der ich regelmäßig einige Sätze wechsle. Meistens geht es um Alltägliches wie Wetter oder Urlaub. Diese Kontakte sind zwar nur flüchtig, aber ich werde freundlich begrüßt und auch vermisst, wenn ich einige Male nicht teilgenommen habe. Umso mehr freue ich mich nach dem Lockdown diese und andere flüchtige Bekannte im Sportstudio gesund wiederzusehen“, erzählt Monika de Byl (72), Rentnerin aus Bottrop.
Mitunter können tägliche Kontakte lebensverlängernd wirken. Das berichtet Horst Heidbrink: „Es gab 2010 eine Meta-Studie mit über 300.000 Personen, da ging es eigentlich um Einsamkeit. Sie lief oft unter der Überschrift: Keine Freunde zu haben, ist so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag zu rauchen. Aber das stimmte so nicht ganz, denn die Unterschiede zwischen sozialen Bindungen waren nicht sehr präzise erfasst worden. Was man aber aus der Studie folgern kann: Diejenigen, die mit ihren sozialen Beziehungen einigermaßen zufrieden sind – unabhängig davon, ob es sich um Familie, Freunde oder lose Bekannte handelt – das sind diejenigen, die tatsächlich auch länger leben. Obwohl es einige Vermutungen gibt, weiß man nicht genau, warum das so ist.“
Welchen flüchtigen, aber liebgewonnenen Alltags-Bekannten würden Sie gerne mal wiedersehen? Schreiben Sie uns: lebenundfamilie@funkemedien.de