Ennepe-Ruhr-Kreis. Ein Mann leidet unter Depressionen. Nach Jahren der Stabilität hat er in der Corona-Krise einen Rückfall erlitten. Ein Blick in sein Tagebuch.

Wenn Hans Krüger* heute zurückblickt, dann beschreibt er die schwerste Zeit seines Lebens als „Gefängnis“. Um die 50 Jahre war er alt, als sich die gefühlte Mauer um ihn aufbaute – und er nicht wusste, wie er sie je wieder überwinden sollte. Heute, rund 30 Jahre später, kennt er den Namen für dieses Gefängnis: „Depression“.

Schreiben ist für ihn eine Strategie, um mit dieser Krankheit zu leben, sich zu erinnern, zu verarbeiten: „Die Nächte quälend, nicht zu Ende gehend. Kreisende, sich wiederholende Gedanken. Morgens, je sonniger der Tag, desto deprimierter die Gedanken.“ Er konnte es nicht ertragen, glückliche Menschen zu sehen, wollte sich verkriechen, gedankenlos verharren. „Die Konzentration lag auf: durchhalten bis zum Abend.“ Aber auch da keine Erleichterung. Er versuchte, zu weinen. Es gelang ihm nicht.

Und dann brach ein neuer Morgen an. Und alles ging wieder von vorne los. Tage, Wochen, Monate…

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Von Einladungen, die ihn aus seiner Schwermut befreien sollten, fühlte sich der Mann aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis überfordert. Smalltalk erschien ihm zu schwer. Urlaubsangebote machten ihm Angst, er lehnte ab. Er vertraute sich niemandem an, zog sich immer mehr zurück. Seine oft einzige Fluchtmöglichkeit: sein Bett.

Endlich Hilfe suchen - und finden

„Er fasste den Entschluss: Er musste etwas tun. Aber was?“, hat Krüger rückblickend auf seinem Tablet notiert. Er schreibt nicht in der Ich-Form, sondern in der dritten Person. Weil ihm das leichter fällt.

Sein Hausarzt riet ihm zu einem Aufenthalt in einer Klinik. Therapie. Entspannungsübungen. Gruppengespräche. Hans Krüger konnte gut nachvollziehen, was die anderen sagten: „Ich fühle mich traurig, unendlich leer. Allein in der Menge. Alle Freude verloren, Dunkelheit überall.“ Die Nebenwirkungen der Psychopharmaka machten ihm zu Schaffen, er setzte die Tabletten ab. Auch die Klinik verließ er frühzeitig, sah keine Chance auf Heilung. Es sollte der erste von drei Aufenthalten sein. Krüger notierte: „Er war wütend auf sich, fühlte sich ohnmächtig.“

Schädlich: zu hohe Ansprüche an sich selbst

Was hatte ihn in sein Gefängnis gebracht? „Zu hohe Ansprüche an sich selbst, nicht erkannter, selbst erzeugter Stress, ausgelöst durch Überforderung, Sensibilität, Versagensängste“, hat Krüger die aus seiner Sicht wichtigsten Ursachen aufgeschrieben. Schon in jungen Jahren sei er wenig selbstbewusst gewesen. Ein Einzelgänger. Auf der Suche nach Anerkennung. Auch als kaufmännischer Angestellter mit Verantwortung war er selten zufrieden mit dem Erreichten.

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Sein Hausarzt empfahl ihm einen Psychologen, da war Hans Krüger bereits um die 60 Jahre alt. 100 Sitzungen bewilligte ihm die Krankenkasse. Seine Therapiezeit war fast zu Ende, da spürte er eine Veränderung – und den starken Wunsch, sich zu bewegen. Er machte Sport, Kraftübungen. Krüger schreibt über sich selbst: „Er hatte jetzt einen festeren Schritt, spürte mehr Kraft in den Muskeln.“ Das Laufen wurde seine große Leidenschaft.

Endlich fühlte er sich wieder besser

„Er stand eines Morgens auf, und der Schleier, der sonst seinen Blick trübte, war verschwunden“, erinnert sich Krüger. „Er hatte das Gefängnis, in dem er viele Jahre gefangen war, endlich verlassen.“

Was hat ihm geholfen? Er kann es heute nur vermuten: Sport und Bewegung. „Der Körper hatte nicht aufgegeben und Geist und Seele beeinflusst.“ Aber auch seine Frau habe ihn unterstützt, die Kollegen hatten Verständnis für ihn. Und sein Glaube half ihm, seine Gebete zu Jesus. Aber was ihm gutgetan hat, muss nicht anderen Menschen helfen. Daher möchte Hans Krüger auch keinen Rat geben, nur diesen: „Gebt niemals auf!“

Dann kam der Rückfall


Eigentlich könnte der Artikel an dieser Stelle enden, mit dem sehr persönlichen Einblick. Hans Krüger fühlte sich seit Jahren stabil. Aber dann erlebte er zwischen den Jahren einen Rückschlag. Ein Auszug aus seinem Tagebuch:


28.12.2020, 9 Uhr
Das, was niemals mehr passieren sollte, ist eingetreten… Negative Gedanken entwickeln sich… Nachlassen der Körperkräfte…Aufkommende Müdigkeit. Schlechte Stimmung, die auf den Magen schlägt. Ich versuche, Kontakte, Anrufe und Gespräche zu vermeiden. Ich schau in den Spiegel: ein fremder, ein trauriger, leerer Blick… Allgemeiner Interessensverlust. Appetitlosigkeit. Bei Sprechen Satzbildung erschwert… Langsame Gedankenbildung. Verzögerte Reflexe. Ich bin nicht mehr bei mir, habe mein Innerstes verloren… Wie ist diese Situation entstanden? … Ist es vielleicht die andauernde Pandemie, die Mutation des Virus und die Angst vor noch mehr Toten ohne Aussicht auf ein baldiges Ende der Krise. Wie kann ich dagegen angehen? Wie die sich anbahnende Depri bekämpfen?…

28.12. 15 Uhr … Die Gedanken werden etwas klarer. Bin weiter im Kampfmodus. Schreiben ist Therapie.

29.12. Die Nacht mit Sorge verbracht… Weder krank, noch gesund, sowas dazwischen. Dankbar für den Istzustand. Gegen Mittag leichtes Magengrummeln, das sich bis zum Abend fortsetzt. Atmung etwas erschwert. Ich muss bei mir bleiben. Versuche, die Entwicklung im Innern mit Mut und Zuversicht zu verfolgen. Ruhig, gelassen und positiv und konzentriert bleiben, ist jetzt wichtig.

30.12. Unruhige Nacht, quälende Gedanken. Ich versuche, aus den Erfahrungen der Vergangenheit, Wege zum Gesundwerden zu finden. Gegen Mittag leichte Aufhellung…

31.12. Nach unruhiger Nacht mit Skepsis dem Morgen entgegen. Ein ambitioniertes Ziel, das neue Jahr als halbwegs gesund zu beginnen. Es ist ein inneres Aufbäumen, ein Hoffen und Zweifeln…

1. Januar 2021 Habe mich selbst in mich zurückgezogen, wie eingesperrt. In der Nacht zwischen 5 – 6.30 Uhr weiter die genannten Probleme.

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Bewegung und Laufen brachten gegen Mittag Erleichterung. Nachlassender Magen- und Kopfdruck. Gegen Abend wieder leichte Verschlechterung.

2. Januar morgens Leichte Besserung, Hoffen auf Stabilität…

4. Januar Fühle mich wieder ziemlich genesen und bin für die schnelle hoffentlich langanhaltende Gesundung dankbar. Die wichtigste Erkenntnis: Mit Schreiben und mit Sport die wichtigen Heilungskräfte im Gehirn zu aktivieren. Es gilt, wachsam zu bleiben, denn auf schnelle Heilung kann auch ein schneller Rückfall folgen.

* Name von der Redaktion geändert.

Übersicht über Anlaufstellen bei Depressionen: deutsche-depressionshilfe.de; Hilfe rund um die Uhr: Telefon-Seelsorge (anonym): 0800/111 0 111