Mönchengladbach/Düsseldorf. Es gibt kaum Künstler, die so jung so viel erreicht haben wie Leon Löwentraut. Doch viele Kritiker nehmen ihn nicht ernst. Wie geht er damit um?

Was ist eigentlich gute Kunst? Leon Löwentraut stützt die rechte Hand mit dem Pinsel in die Hüfte, tritt einen Schritt weg vom neonfarbenen Gemälde und seine Augen blicken nach oben; mal nach links, mal nach rechts. Um ihn herum stehen auf einem beigen Teppich etwa zwei Dutzend Farbtöpfe mit Pinseln, überall auf dem Boden kleben bunte Spritzer. Draußen ist es dunkel. „Ein sehr gutes Bild erkenne ich sofort. Aber es ist nicht einfach, die eigenen Bilder zu beurteilen. Meine schlechten Werke zerstöre ich sofort“, sagt er. Wenn Löwentraut etwas erklärt, was ihm wichtig ist, gestikuliert er mit den Armen, redet laut und beendet Sätze mit: So. Ein bisschen wie ein alter Mann.

Leon Löwentraut ist 22, trägt ein graues T-Shirt mit der Aufschrift „I love New York“ und arbeitet an einem Gemälde in seinem 350 Quadratmeter großen Atelier in Mönchengladbach. Schon mit sieben Jahren begann er zu malen, seine Mutter unterstützte ihn. Mit 12 Jahren verkaufte er Bilder für 150 Euro an eine Pizzeria. Heute zählt er zu den kommerziell erfolgreichen deutschen Künstlern. Sein Vater ist sein Manager, die Mutter macht die Buchhaltung. „Bevor ich 30 bin, will ich im Moma hängen“, sagt er. Seine Werke hat er unter anderem in New York, Berlin und Singapur gezeigt.

Leon Löwentraut: große Kunst oder Kopien großer Künstler?

Kunstexperten lehnen seine Bilder oftmals ab, sie sagen, er schaffe nichts Neues, kopiere nur andere Künstler, etwa Picasso oder Basquiat. Gleichzeitig finden viele Menschen seine Bilder so schön, dass sie zehntausende Euro ausgeben, um sie in ihre Wohnzimmer zu hängen. Wie kann das sein, wo so viele Experten ihn so sehr ablehnen? Und wie passt sein Erfolg zwischen diese beiden scheinbar unvereinbaren Fronten?

Einige Stunden bevor er an diesem Tag in seinem Atelier in Mönchengladbach arbeitet, bemalt er eine Skulptur in der Kunstgießerei Schmäke in Düsseldorf. Löwentraut steht vor einem Gesicht aus Bronze, etwa 1,90 Meter hoch. „Das ist erst die vierte Skulptur, die ich gemacht habe“, sagt er. Obwohl ein Dutzend offener Farbtöpfe auf dem Tresen des Arbeitsraums stehen, riecht es nicht nach Farbe, eher nach altem Keller. Löwentraut wischt mit groben Strichen dunkelblaue Farbe auf das sonst bunt angemalte Bronzegesicht. Die Skulptur ist Teil seiner Serie „Different Minds“, was so viel bedeutet wie: unterschiedliche Denkweisen. Er möchte damit seine Erlebnisse mit Menschen ausdrücken. „Die Serie soll Leute ermutigen, sich eher mit ihrer positiven als mit ihren dunklen, negativen Seite zu beschäftigen“, sagt er.

Das erste Mal habe ich Löwentraut 2008 getroffen. Wir waren auf demselben Internat in Bonn. Er kam als Fünftklässler, ich war in der Oberstufe. Während die meisten seiner Klassenkameraden ältere Schüler nur aus dem Augenwinkel ansahen, war Löwentraut rotzfrech. Der damals 11-Jährige stellte sich zu den Oberstufenschülern in die Raucherecke und verlangte Zigaretten, die Abiturientinnen lächelte er an und versuchte, mit ihnen zu flirten. Er wusste früh, wie man Gespräch wird. Was man ihm aber nicht ansah, war sein Kummer. „Ich hatte von allen am meisten und schlimmsten Heimweh. Das war schon krass“, sagt er. Er habe in der Schule immer eine Show abgezogen, sich alles rausgenommen, vielleicht um die Trauer zu kompensieren. „Ich hänge einfach sehr an meiner Familie.“ Als Löwentraut 14 Jahre alt war, geriet die Familie in finanzielle Not, musste ihr Haus in Düsseldorf verkaufen. „Ich wollte nie wieder in so eine hilflose Situation kommen“, sagt er.

„Keine Schule wollte mich“

Eigentlich hatte er eine Empfehlung für die Realschule, aber seine Eltern kämpften dafür, dass er aufs Gymnasium kommt. „Wir haben uns tausende Schulen angeguckt, keine wollte mich. Nur in Bonn hat es dann geklappt.“ Als 12-Jähriger hat er vom Pausenhof aus Journalisten angerufen, ihnen von seiner Kunst berichtet. „Ich habe gesagt, wenn sie jetzt ein Interview mit mir machen, verspreche ich, ihnen wieder eins zu geben, wenn ich sehr, sehr erfolgreich bin.“ Es folgten Berichte im „General-Anzeiger“, auf „Spiegel Online“ und in der „Bild“, er trat bei „TV Total“ auf, und wurde langsam bekannt. In Kunst hatte er nur eine Drei auf seinem letzten Zeugnis. „Ich habe nie das gemalt, was die Lehrerin wollte, sondern das, was ich wollte.“ Er verließ die Schule nach der 12. Klasse, ohne Abitur.

Um die Schulter der Bronzefigur in der Kunstgießerei auszumalen, setzt er sich in die Hocke, verwendet einen feinen Pinsel und tupft mit einem weißen Tuch Tropfen weg, die aus den Rillen kullern, wenn er zu viel Farbe genommen hat. Plötzlich springt er auf. Er wirkt unruhig, legt den Pinsel ab und guckt auf sein Smartphone. Er versucht jemanden anzurufen, niemand hebt ab. Irgendwas scheint mit der Skulptur nicht zu stimmen.

Sein Ziel ist, dass seine Bilder eines Tages im Moma in New York hängen - dem wohl berühmtesten Museum der Welt.
Sein Ziel ist, dass seine Bilder eines Tages im Moma in New York hängen - dem wohl berühmtesten Museum der Welt. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Er ruft seinen Vater an, den Manager, aber der sitzt gerade im Flugzeug. Also schickt der Ungeduldige ihm und seinem Galeristen eine Sprachnachricht. Es passiert immer wieder, dass Löwentraut etwas in den Kopf schießt und er das Handy zückt, um Sprachnachrichten zu abzufeuern. Er scheint genau zu wissen, was er will und hakt sofort nach, wenn etwas nicht passt. Diese Ich-löse-das-jetzt-sofort-Einstellung ist ein Grund seines Erfolgs. „Wenn ich für was richtig brenne und will, dass das jetzt klappt. Aber es klappt nicht, dann explodiere ich.“ Löwentraut positioniert sich vor der Skulptur, läuft um sie herum und sagt: „Sieht schon richtig fett aus.“

Eine exakte Vorstellung hat er meistens nicht, bevor er anfängt zu malen, seine Werke entstehen impulsiv, teilweise im Rausch, wie er sagt. Nur bei einigen Bildern greift er auf Skizzen zurück, die er auf Reisen zeichnet. Er denke beim Malen über das Leben nach, über Menschen. Er sei eine sehr emotionale Person, weine bei Filmen. „Die Energie sieht man meinen Bildern an.“ Einer seiner Lieblingsfilme ist „Hachiko“ von Regisseur Lasse Hallström. „Dass der Hund immer wieder an der gleichen Stelle auf sein Herrchen wartet, obwohl er weiß, dass er nicht zurückkommt. Diese Loyalität, diese Treue, einfach nur krass, das kann man nicht kaufen.“

Kunstsammler Olbricht: „Der wahre Künstler ist der verändernde Künstler“

Löwentraut macht aus seinen Ausstellungen immer eine große Show: Bekannte DJs legen auf, er ist einmal auf Mallorca mit einer Kutsche zu einer Ausstellung vorgefahren, zu einer anderen, auf Ibiza, mit einem Hubschrauber gekommen, auf dessen Verkleidung sein Name lackiert war. Von 3000 bis zu 80.000 Euro kosten seine Werke. Vergangenes Jahr hat der Landtag NRW Löwentraut beauftragt, ein Bild zu malen. Es hängt nun am Eingang zum Plenarsaal.

Starken Gegenwind bekommt Löwentraut von Kunstexperten. Kay Heymer arbeitet im Museum Kunstpalast in Düsseldorf und ist für den Bereich Moderne Kunst zuständig. Er erkennt in Löwentrauts Werken nichts Innovatives, es sei Dekoration und das komme bei einem gewissen Publikum gut an. „Er kopiert Expressionisten wie Picasso oder Basquiat, fügt aber nichts Eigenes hinzu. Er ist ein Plagiator.“

Und Thomas Olbricht, einer der wichtigsten Kunstsammler in Europa, sagt der WAZ: „Löwentraut ist ein Hype, eine Mode, aber keine nachhaltige Kunst.“ Er könne sich gut vermarkten. Die Werke würden bald in der Nichtigkeit versinken, mit der Farbigkeit versuche er Harmonie herzustellen, nur, es gelinge ihm nicht. „Der wahre Künstler ist der verändernde Künstler, der die Auseinandersetzung im Neuland optischer Erfahrungen sucht und seine Zeitgenossenen damit zu permanenten Stellungnahmen zwingt“. Das sehe er bei Löwentraut nicht. „Er hat Talent“, sagt Olbricht, „als Entertainer“.

Galerist Geuer: „Die Bilder faszinieren Menschen in vielen Teilen der Welt.“

Löwentrauts Galerist, Dirk Geuer, dagegen sagt: „Die Bilder faszinieren Menschen in vielen Teilen der Welt.“ So viele könnten sich im Grunde nicht irren. Leon habe seine eigene Handschrift gefunden, eine Bildsprache entwickelt, die er so noch nicht gesehen habe. Stehe man vor den Werken, springe einem die Energie der Werke förmlich an. „Man kann sich ihrem Sog nicht entziehen.“ Daher findet Geuer, dass Kritiker die Bilder nur beurteilen sollten, wenn sie sie zumindest einmal live gesehen hätten, „und nicht nur aus dem Internet kennen“.

Die meisten Kritiker seien noch nie zu einer Ausstellung gekommen. Ihm persönlich gefalle an den Gemälden, dass sie sich zwar mit Problemen der Zeit, wie Hunger, Armut, Klima befassen, aber durch die Farbigkeit eine hoffnungsvolle Perspektive böten. „Bedeutende Künstler, wie van Gogh oder Basquiat, wurden von den Kritikern hart kritisiert und sind dennoch in die Kunstgeschichte eingegangen – im Gegensatz zu den Kritikern“, sagt Geuer. Wer in der Kunstgeschichte zukünftig eine Rolle spiele, entscheiden nicht die Kritiker von heute, sondern alleine die Zukunft.

„Ich probiere gerade wahnsinnig viel aus“

Zurück im Atelier. Nachdem er die Bronzeskulptur fertig angemalt und erfahren hat, dass noch drei weitere davon gegossen werden, pinselt er erschöpft mit Acrylfarbe orangene Kreise auf ein Bild, das er „Kon­trolle“ nennen will. Die Erdkugel, darüber drei größere Gesichter, die nach vorne, links und rechts blicken. Im Raum verteilt liegen unveröffentlichte Arbeiten, Kohlezeichnungen auf Japanpapier: „Das beste Papier, was du kriegen kannst.“ Darauf zu sehen: schwarze Figuren, Gesichter, geschwungene Linien. Hinter den Milchglasfenstern in der sieben Meter hohen Decke ist es Nacht, Löwentraut hört elektronische Musik.

Letztens habe er von der Empore des Ateliers einen Eimer schmutziges Wasser auf zehn noch von der Farbe nasse Leinwände gekippt und mit „allem was mir in die Hände gekommen ist, vermischt“. Es sei eine ganz neue Technik. „Ich probiere gerade wahnsinnig viel aus.“ Das passiere aber eher in seinem Unterbewusstsein. Schon gar nicht mache er das aus Wut oder als Reaktion auf die Ablehnung. „Wenn die Kritik nur Häme ist, verletzt mich das schon.“ Über konstruktive Kritik freue er sich. „Dann denke ich auch darüber nach, was davon stimmen könnte.“ Kritik sporne ihn vor allem an.

„Die Kritik ist eigentlich für mich nur Anerkennung“
„Die Kritik ist eigentlich für mich nur Anerkennung“ © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Löwentraut legt den Pinsel zurück ins Farbtöpfchen. Er sei müde nach dem Tag und zündet sich eine Zigarette an. „Die Kritik ist eigentlich für mich nur Anerkennung“, sagt er dann. „Picasso haben sie die Scheiben eingeschmissen und gesagt, was der macht, ist keine Kunst. Traut sich heute niemand mehr.“ Um seine künftige Entwicklung zu skizzieren, greift Löwentraut auf ein Zitat zurück, dass Gandhi gesagt haben soll: „Erst ignorieren dich die Leuten, dann fangen sie an dich zu belächeln, dann bekämpfen sie dich und wenn du das überwunden hast, dann fangen sie an dich zu bewundern.“ Deswegen halte er an seinem Weg fest, schaue nicht nach links oder rechts, sondern bleibe „straight“.

„Nach Corona haue ich auf die Kacke“

Auch wenn das nicht immer einfach sei. Er blickt sich in seinem Anfang des Jahres fertig gestellten Atelier um. „Ich bin ja hier aufs Land gezogen, damit ich mich auf meine Bilder konzentrieren kann.“ Das zurückgezogene Leben, allein mit den Eltern und drei Hunden, schütze ihn vor zu viel Negativität.

Für nächstes Jahr habe er Großes vor. Er wolle mehrere Ausstellungen organisieren. Einladungen in bekannte Museen in Rom, Venedig und Hongkong lägen bereits vor. „Wenn Corona vorbei ist, haue ich so auf die Kacke – vom anderen Stern.“ Mit dem Daumen drückt er die Zigarette in den Aschenbecher, bis kein Qualm mehr austritt. So.

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