Kreis Unna. Im Kreis Unna und darüber hinaus gibt es 45 Kunstwerke unter freiem Himmel, die ihren Glanz erst in der Dunkelheit zeigen.
Bei Tageslicht sieht er aus wie ein ganz normaler Schornstein. Gut, wie ein sehr alter, schließlich wurde er 1936 erbaut, in einer Zeit, als in der Lindenbrauerei in Unna nicht nur Bier getrunken, sondern auch im großen Stil gebraut wurde. Aber erst, wenn die Dämmerung einsetzt, zeigt der Schornstein der alten Brauerei seine wahre Schönheit: Dann leuchten an ihm Zahlen.
Je dunkler der Himmel ist, desto intensiver erstrahlen sie: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 … und so weiter und so fort bis 987 an der Schornsteinspitze – um die Zahl zu erkennen, muss man allerdings schon den Kopf in den Nacken legen. Der Rätselfreund unter den Nachtschwärmern wird grübeln: Ist die Zahlenfolge Zufall oder folgt sie einem Gesetz?
Der Italiener Mario Merz (1925 - 2003) erinnert mit seiner Lichtkunst „Fibonacci-Reihe“ von 2001 an den italienischen Mathematiker und Philosophen Fibonacci, der bereits im Mittelalter diese Zahlenfolge zur Berechnung von Spiralen erdachte. Eine Ziffer ergibt sich durch die Addition der beiden Zahlen, die in der Reihe zuvor stehen. Für Mario Merz ein Symbol für Energie – auch der geistigen. Ein Glasbläser hat diese Zahlen geschaffen, dieses Handwerk verstehen heute nur noch die wenigsten.
Theoretisch könnte die Reihe unendlich in den Himmel gehen
Theoretisch müsste die bläulich schimmernde Zahlenreihe nicht bei der 987 enden. Der Schornstein ist ideal für diese Lichtkunst, sagt Sigrun Krauß, „man kann sich vorstellen, die Zahlen gehen immer weiter in den Himmel.“
Die 62-Jährige ist Geschäftsführerin des Vereins „Hellweg ein Lichtweg“. 45 Werke zählen zu diesem Projekt im Kreis Unna und darüber hinaus. Bis auf zwei sind allesamt frei zugänglich. Etwa „Impuls“ – eine pulsierende 33 Meter hohe Lichtskulptur von Maik und Dirk Löbbert auf der Halde „Großes Holz“ – ein Denkmal für die Bergleute. Oder „Radial“ von Martin Pfeiffle in Lünen: Edelstahlstelen mit LED-Lichtlinien erinnern an ein modernes Stadttor. Oder im selben Ort der „Flusswächter“ von Kazuo Katase – die Laterne zwischen den Stahlrohren beleuchtet das Lippeufer. Wenn sie denn leuchtet. . .
Licht aus – Kunst aus: Diese Werke sind bei der Wartung besonders anspruchsvoll
Erstaunlich: Vandalismus wie etwa Graffiti-Schmierereien bei anderen Werken unter freiem Himmel, sei bisher nie das Problem gewesen, so Krauß. Trotzdem ist diese Art von Kunst anfällig, wie auch unsere Tour zeigt. Da fällt schon mal ein Licht aus – und das stört sofort das Gesamtbild, wie etwa bei den Stäben von Maik und Dirk Löbbert aus Gelsenkirchen und Wattenscheid. Jeder dieser vier Leuchtstäbe ist zehn Meter hoch und steht auf einer Kreisverkehr-Insel. Mal leuchtet er blau, mal grün, mal magenta – oder eben gelb an der Landwehrstraße, Ecke Präsidentenstraße, dort aber bei unserem Besuch unterbrochen von dunklen Lücken. Sigrun Krauß: „Die Wartung der Lichtkunstwerke ist nicht die einfachste und auch nicht die günstigste.“
„Bergkamen setzt Maßstäbe“ heißt das Werk. Die Künstler wollten mit diesen Leuchtstäben, auf die man gedanklich ein Dach setzen könnte, ein verbindendes Element für den Ort finden, der nicht wie andere über ein gewachsenes Stadtbild verfügt, so Krauß. Noch etwas fällt bei diesem Werk beispielhaft für die Lichtkunst auf: Sie kann nur richtig wirken, wenn nicht andere Lichter mit ihr konkurrieren. Ein Supermarkt in der Nähe lockt mit grellen rot-weißen Werbetafeln. Andernorts schmälern Laternen den Kunstgenuss. Wie beim Himmel in einer Großstadt, bei dem vor lauter Lichtverschmutzung kaum noch ein Stern zu erkennen ist, verblasst auch hier die Lichtkunst.
Mit den Lichterlebnissen, die in ihrer Dichte in Europa einzigartig seien, so Krauß, will man seit der „Internationalen Bauausstellung Emscher Park“ (1989 - 1999) den Wandel der Region versinnbildlichen, die schon lange nicht mehr nur für Kohle steht: So hat Mischa Kuball aus Düsseldorf den Förderturm der stillgelegten Zeche Königsborn III/IV in Bönen mit zwei riesigen Lichtlinien gekennzeichnet. „Yellow Marker“ heißt das nun rund 20 Jahre alte Werk, das auch von Weitem gut zu erkennen ist. Wem das jetzt bekannt vorkommt: Am Niederrhein hat Mischa Kuball auch den Förderturm von Rossenray erleuchtet, quasi als West- und Ostpol der Route der Landmarken-Kunst. Allerdings ist das Licht in Kamp-Lintfort mittlerweile erloschen. Der Turm wurde abgerissen.
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In der Lindenbrauerei in Unna wird allerdings seit 18 Jahren – im kleineren Stil als zuletzt Ende der 1970ern – wieder gebraut. In dem heute teils denkmalgeschützten Haus befindet sich ein soziokulturelles Zentrum mit einer Kneipe. Und noch etwas beherbergt die alte Lindenbrauerei, das ebenfalls seine wahre Schönheit wie der Schornstein erst dann zeigt, wenn es dunkel ist: ein Museum – das Zentrum für Internationale Lichtkunst.
Bis Februar 2021 gibt es die Veranstaltungsreihe „On/Off“ mit Führungen. Allerdings kam es coronabedingt bereits zu Absagen.
Museum: Zentrum für Internationale Lichtkunst. Schau „Neon Delight“ bis zum 29. November 2020. Nur im Rahmen von Führungen zu besichtigen. Tickets (11 €) vorab online buchen: lichtkunst-unna.de