Herten. Kunst ist nicht nur zum Bestaunen da. Die Werke in Herten sind bereits für die Kleinsten liebgewonnene Orte, an denen man auf Schweinen reitet.

„Maaaama, du hast mir doch ein Eis versprochen“, quengelt das Kind und zerrt an der Hand der Mutter. Der Papa hat schon viel zu lange mit seinem alten Freund gesprochen. „Mir ist langweilig!“ Eine Szene, die man in jeder Fußgängerzone beobachten kann. So auch in Herten. Mit einem kleinen Unterschied: In Herten sind die Menschen überlebensgroß und nackt.

„Mir ist langweilig“ – das Kind will weg, die Eltern möchten sich unterhalten. „Kommunikation“ von Heinrich Brockmeier zeigt eine Alltagssituation.
„Mir ist langweilig“ – das Kind will weg, die Eltern möchten sich unterhalten. „Kommunikation“ von Heinrich Brockmeier zeigt eine Alltagssituation. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Als Heinrich Brockmeier 1986 seine Bronze-Menschen an der Ewaldstraße mitten in der Stadt ohne Kleidung miteinander kommunizieren ließ, um dem Alltag ein Denkmal zu setzen, gab es Diskussionen, erinnert sich Gregor Spohr (73): „Das geht doch nicht!“

Dabei hätte man heute die Kleidung vielleicht als altmodisch empfunden, wenn der Künstler die Figuren damals eingekleidet hätte. Obwohl? Die 80er sind ja wieder modern... Gregor Spohr, Journalist im Ruhestand und Mitglied der Initiative „Stadt-Kunst“, die in Herten die Kunst im öffentlichen Raum fördert, sagt jedenfalls: „Ich finde es völlig normal, die Leute darzustellen, wie sie sind. Da nimmt heute keiner mehr Anstoß dran.“

Im Gegenteil: „Die Kinder laufen da durch, spielen fangen“, sagt Monika Engel (63), die das Amt für außerschulische Bildung und die VHS der Stadt leitet. „Kommunikation“ ist nur eins von rund 50 Kunstwerken im öffentlichen Raum in Herten. Das sind vergleichsweise viele in einer Stadt mit lediglich 62.500 Einwohnern.

„Miteinander“ – wie das Miteinander in der Stadt –, ebenfalls von Heinrich Brockmeier.
„Miteinander“ – wie das Miteinander in der Stadt –, ebenfalls von Heinrich Brockmeier. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

„Miteinander“ heißt ein weiteres Werk von Heinrich Brockmeier aus Recklinghausen. Schmale Bronzefiguren, Männer und Frauen abwechselnd, stehen in Reih und Glied. Die Gruppen sind Teile von Edelstahlstelen. „Das passt gut zu Herten“, meint Monika Engel. „Hier gibt es ein sehr gelebtes Miteinander.“ Für Gregor Spohr bekommt das Werk durch die Coronakrise eine ganz neue Bedeutung. Die Menschen können einerseits nicht so eng beieinander stehen, andererseits schauen sie in eine Richtung. Engel: „Sie verfolgen ein Ziel.“

In Herten eilen die Menschen nicht einfach an den Werken vorbei. Sie nehmen Platz neben dem Lesenden, einer Bronzeplastik, ebenfalls von Heinrich Brockmeier. Und bei einem Werk des Essener Künstlers und Pädagogen Hugo Kükelhaus stecken sie sogar den Kopf hinein.

Gut, erstmal die Spinnweben aus dem Loch in dem fünf Meter hohen Naturstein entfernen, aber dann: mit der Nase voran und summen. Und dann brummt es in den Ohren, dass man erstaunt den Kopf wieder zurückzieht. „Großer Summstein“ heißt das Werk im Innenhof des sogenannten Glashauses, das Tagungsort und Bibliothek ist und seinem Namen alle Ehre macht.

Mit der Nase voran ins Kunstwerk und dann summen

Auf der einen Seite des Steins können Erwachsene summen, auf der anderen Seite lädt ein tiefes, eingelassenes Loch Kinder zum Staunen ein. „Es lag ihm immer daran, Kinder mit einzubinden“, sagt Monika Engel über Hugo Kükelhaus, der mit seiner Ausstellung „Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne“ berühmt wurde. Auf seine Ideen geht auch etwa das Erlebnismuseum Phänomania in Essen zurück.

Stadt- und Kunstkenner aus Herten: Gregor Spohr.
Stadt- und Kunstkenner aus Herten: Gregor Spohr. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Die Kleinsten in Herten mögen aber noch lieber die Werke mit den Ringelschwänzchen. Spohr: „Man sieht es an den goldenen Ohren.“ So oft haben die Kinder sich an den Schweinen festgehalten. Ein Mädchen hängt ihr rosafarbenes Täschchen an eines dieser Ohren, um auf den Eber zu klettern. Ganz schön hoch. Nun, der Rücken eines Ferkels tut es auch. Gleich eine ganze „Schweineherde“ hat Peter Lehmann auf dem Otto-Wels-Platz versammelt. In der Heimatstadt des Bildhauers macht eine ähnliche Sauerei den Bremer Stadtmusikanten Konkurrenz. In der ehemaligen Bergbaustadt sind nicht Esel, Hund, Katze oder Hahn die beliebtesten Skulpturtiere: Neben Schwein, Gans und Pferd sieht man häufig Tauben, wie etwa beim „Mädchen mit der Taube“ von Annette Wittkamp-Fröhling. Als Friedensbringer oder eben als Rennpferd des kleinen Mannes.

Hinter der Schweineherde in Herten steht noch ein weiteres Werk, das nur die wenigsten auf den ersten Blick als Kunst erkennen, so die Historikerin Monika Engel, das aber sehr beliebt ist: die „Bodenflügel“ von Dorothee Bielfeld. Diese Plastik der Bochumer Künstlerin hat zwei Flügel, der zweite schwingt sich gegenüber vor dem Rathaus hinauf. Wie eine Rampe, die Grundschüler gerne für eine Skateboard-Runde nutzen.

„Er hat Kinder mit einbezogen“, so Monika Engel, Amtsleiterin für außerschulische Bildung und VHS-Leiterin in Herten, über den Künstler Hugo Kükelhaus.
„Er hat Kinder mit einbezogen“, so Monika Engel, Amtsleiterin für außerschulische Bildung und VHS-Leiterin in Herten, über den Künstler Hugo Kükelhaus. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Auf dem Otto-Wels-Platz läuft eigentlich Wasser über den Flügel. Aber in Corona-Zeiten wird es an vielen Orten abgedreht, damit sich die Menschen dort nicht zu sehr tummeln. Engel: „Es ist ein wahnsinniges Kinderspielbecken, wenn wir nicht Corona haben.“

Die Bodenflügel verbinden die eine Seite der Stadt mit der anderen: Unweit des Rathausflügels ist der Eingang zum Schlosspark. Wer durch ihn hindurchgeht, unter dem Blätterdach alter Bäume und vorbei am Schloss, kommt auf einen Weg, der in zwei Kilometern geradewegs auf den Landschaftspark Hoheward zuläuft – mit der ehemaligen Zeche Ewald, der Halde und dem Horizontobservatorium eine der bekanntesten Landschaftsmarken des Reviers.

Es lohnt sich aber, vom Weg abzukommen. Denn dort steht auf Häldchen das „Burgenland“. „Die tollste Kunst, die wir meiner Meinung nach haben“, schwärmt Spohr. Im Kulturhauptstadtjahr 2010 hat der Land-Art-Künstler Nils-Udo aus Franken die Mini-Zechen aus Corten-Stahl errichtet.

Das „Burgenland“ des Künstler Nils-Udo – durch den Zaun hindurchfotografiert.
Das „Burgenland“ des Künstler Nils-Udo – durch den Zaun hindurchfotografiert. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Dass sie rosten, ist nicht tragisch, sondern eher typisch für dieses Material – ein Symbol der Vergänglichkeit. Allerdings kletterten nicht nur Kinder die Hügel ­hinauf, Hunde und Kaninchen buddelten dort gerne. Das Werk musste bereits saniert werden. Und auch heute kommt der Betrachter nicht ganz nah heran. Das Burgenland ist eingezäunt und somit eines der wenigen Kunstwerke in Herten, bei denen es mal nicht heißt: „Anfassen erlaubt!“

Eine Broschüre der Stadt erklärt die Kunstwerke und nennt die Standorte (Download: herten.de/kultur/kunst/kunst-im-oeffentlichen-raum.html). Die kostenlose „Cityapp Herten“ zeigt Kultur-Routen, die man zum Beispiel mit dem Fahrrad abfahren kann.