Essen. Alles spricht von digitalem Lernen aber viele Lehrmittel sind noch analog. Experten aus dem Revier entwickeln jetzt die Schulbücher der Zukunft.
Das ganze Land spricht von digitalem Lernen und dann das: Stapelweise liegen sie kurz vor dem Start in das neue Schuljahr in den Buchläden. Die neuen Bücher für Deutsch, Mathe oder Geographie. Zwei Pappdeckel und jede Menge Hochglanzseiten dazwischen. Mehr analog geht nicht. Klaus Jägersküpper lächelt. „Man darf sich nicht täuschen lassen.“
Der 66-jährige weiß wovon er spricht. Zumindest wenn es um Geographie-Schulbücher geht. Nicht nur weil er dieses Fach seit Jahren an der B.M.V.-Schule in Essen unterrichtet und auch am Geographie-Institut der Ruhr-Universität in Bochum angehenden Lehrern beibringt, Inhalte daraus zu vermitteln. Nein, Jägersküpper hat – zusammen mit seinen Kollegen Karl-Heinz Otto und Klaus Jebbink – in den vergangenen Jahren für den Westermann-Verlag neue Seydlitz-Schulbücher für Gymnasien (Stufe 5-10) entwickelt und geschrieben. Motto: „Geographie von heute für die Welt von morgen.“
Nah an der Lebenswirklichkeit der Kinder
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Das ist ein hoher Anspruch, weil ja niemand weiß, wie die Welt von morgen aussieht und weder Jägersküpper noch einer seiner Kollegen im Besitz einer funktionsfähigen Glaskugel ist. Klar, die grundsätzlichen Themen des Lehrplanes gibt die jeweilige Landesregierung vor, Experten wie Jägersküpper füllen sie dann mit Inhalten. Was beschäftigt die Menschen, was wird sie auch noch länger beschäftigen, haben sich die Schulbuchmacher gefragt. Erderwärmung, Migration, Landflucht, Fridays for Future und natürlich Corona sind nur einige Antworten, die sie gefunden haben.
Doch nicht nur die Themen sind neu, sondern auch die Art und Weise, wie sie in den Büchern aufgearbeitet werden. Lehrer spricht, Schüler hören nur zu, „das ist vorbei“, sagt Klaus Jebbink. Telefon-Interviews stehen auf dem Lehrplan und Besuche bei Menschen, die etwas zu den Themen zu sagen haben. Zwischendurch gibt es kleine Experimente. Höhenschnitte mit Hilfe von Kartoffelscheiben erstellen ist nur eines davon. Alles soll so nah wie möglich an der Lebenswirklichkeit der Kinder sein. Geht es etwa um Bodenschätze, wird nicht mehr über Kupfer, sondern über Lithium gesprochen. „Das kennen viele Kinder im Zusammenhang mit ihren Handys“, weiß Jägersküpper.
Analoge Bücher mit digitaler Technik
Und natürlich gibt es in den eigentlich analogen Büchern auch digitale Technik. Ein wenig zumindest. Recherchetipps für das Netz, Aufgaben zu Google Earth und eine spezielle App, mit der man Seiten einscannen und – relativ schnell immer wieder aktualisiert – zum Leben erwecken kann. Augmented- oder Virtual-Reality heißt das.
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So ähnlich, sagt Regine Meyer-Arlt, Sprecherin des Westermann-Verlages, sei das auch bei Schulbüchern anderer Fachrichtungen. Und so ähnlich ist das auch bei den anderen Schulbuchverlagen im Land. Nur wirklich genutzt werden die Möglichkeiten in den Schulen oft nicht.
Woran das liegt? Jedenfalls nicht daran, dass die Kinder nicht über das nötige Equipment verfügen, weiß Jägersküpper. Er hat das an einem Gymnasium – nicht im Problemviertel, aber auch nicht „im Essener Süden“ - testweise mit Seiten aus den Seydlitz-Büchern ausprobiert. „Einmal Bescheid gesagt und am nächsten Tag hatten alle Jungen und Mädchen ein Smart-Phone oder Tablet mit, um die nötige App herunter zu laden.“
Wenn Lehrer nur auf Bewährtes zurückgreifen
Also wollen die Lehrer nicht? „Kann man pauschal so nicht sagen“, findet Meyer-Arlt. „Es gibt solche und solche.“ Jägersküpper kennt das. „Manche machen nur das, was sie seit Jahrzehnten machen.“ Viele aber stünden den neuen Angeboten aufgeschlossen gegenüber. Seit Corona werden es sogar immer mehr. „Mit den Schulschließungen ist das Interesse bei den Lehrerinnen und Lehrern stark gestiegen“, bestätigt Florian Lange Schindler, Sprecher des Cornelsen-Verlages. Seitdem haben wir 40 Prozent mehr Nutzer unserer Websites.“
Lange-Schindler glaubt nicht, dass sich das nach Eindämmung des Virus wieder ändert. „So, wie in der Wirtschaft das Arbeiten im Home Office einen erheblichen Anstieg verzeichnen, so werden sich in der Bildung die Erwartungen an Infrastruktur, Endgeräte und digitale Medien nicht mehr auf eine Vor-Corona-Zeit zurückdrehen lassen.“
Doch längst nicht jeder, der die digitalen Angebote nutzen möchte, kann das auch. „In vielen Schulen ist die technische Ausstattung noch nicht soweit“, heißt es bei den großen Verlagen. „Die WLAN-Netze sind oft recht wackelig“, präzisiert Jägersküpper. Und Christoph Pienkoß, Geschäftsführer Verband Bildungsmedien kritisiert: „In Deutschland fehlt weitgehend eine gemeinsame Infrastruktur, damit Kinder und Jugendliche auch zu Hause auf Materialien zugreifen oder von ihren Lehrkräften Aufgaben und Feedback erhalten.“ Auch das könnte sich nach Einschätzung von Experten ändern: Die Schulschließungen haben den Druck auf die Digitalisierung der Schulen erhöht“, glaubt nicht nur Cornelsen-Sprecher Lange-Schindler.
Keine schnelle Entwicklung
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Über Nacht wird das klassische Schulbuch nach Einschätzung von Lehrern aber nicht verschwinden. Lernen aus dem Buch habe auch Vorteile, hat Jägersküpper festgestellt. „Man wird weniger abgelenkt, weil zum Beispiel nicht plötzlich eine Kurznachricht der besten Freundin aufpoppt.“ Außerdem, sagt der Pädagoge, habe er den Eindruck, dass Erlerntes aus klassischen Büchern „tiefer“ sitze. Aber dass das nicht reichen wird, weiß er spätestens, seit er die digitalen Möglichkeiten seiner Bücher mit seinen Schülern ausprobiert hat. „Die Kinder“, sagt Jägersküpper, „waren völlig begeistert.“
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