Unna/Köln. Unsere beliebtesten Plus-Texte: Sarah-Lee Heinrich befreite sich aus der Armutsfalle: „Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen.“
Dieser Text ist zum ersten Mal am 1. August erschienen.
In ihrer Kindheit hat sie Verstecken gespielt. Aber nicht dieses Spiel, bei dem man sich am Ende freut, wenn andere einen finden. Sarah-Lee Heinrich hat immer wieder zu verbergen versucht, dass sie arm ist. „Schon junge Kinder haben sehr frech über Menschen geredet, die bei Kik eingekauft haben. Ich hatte Angst vor Mobbing.“
Sarah-Lee Heinrich wuchs in Fröndenberg bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf, die von Hartz IV lebt. Dass sie sich vieles nicht leisten konnte, was für andere Jugendliche selbstverständlich ist – Sport im Verein, Pizza mit Freunden, gute Klamotten –, das sei nicht schön gewesen. Aber das Schlimmste war: „Man lebt die ganze Zeit in der Angst, dass man auf Hartz IV hängenbleibt.“
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Mehr als jedes fünfte Kind wächst in Deutschland in Armut auf. In Essen, Herne, Duisburg und Dortmund sind es sogar etwa jedes dritte Kind. Und in Gelsenkirchen noch mehr: 41,5 Prozent der Kinder, so das Ergebnis einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung. Ein weiteres: Die Corona-Krise wird die Situation noch verschärfen. Und wer einmal in der Armutsfalle sitzt, kommt dort schwer wieder heraus.
Sarah-Lee Heinrich strampelt sich jedoch frei. Sie hat auf dem Pestalozzi-Gymnasium in Unna ihr Abitur gemacht. Heute lebt die 19-Jährige in Köln in einer Wohngemeinschaft und studiert Sozialwissenschaften. Sie hat es geschafft! Aber das will sie nicht hören: „Wenn man zu mir sagt: Du hast dich angestrengt, du hast es geschafft. Dann meint man umgekehrt: Die, die es nicht geschafft haben, haben sich nur nicht genug angestrengt. Das finde ich zynisch, wenn man überlegt, wie viele Hürden einem in den Weg gelegt werden, wenn man in Armut lebt.“ Dabei denkt sie nicht nur an die Kinder, deren Eltern Hartz IV beziehen, sondern auch an die, die von sehr geringen Löhnen leben müssen.
Kinder werden nach der vierten Klasse aussortiert
Das Lernen in der Schule sei ihr nicht schwer gefallen. Aber oft würden Hartz-IV-Kinder schon nach der vierten Klasse quasi aussortiert, bekämen gar nicht mehr die Chance, Abitur zu machen. Während Kinder aus Familien mit einem guten Einkommen mit fünfmal Nachhilfe im Monat dann doch noch in Mathe bestehen, so Sarah-Lee Heinrich. Sie wollte auch gerne am sozialen Leben teilnehmen, in einem Tanzverein trainieren. Aber der Monatsbeitrag von 30 Euro schien unbezahlbar.
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Und einfach zu jobben, sei für eine Jugendliche, die in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, auch nicht leicht. Denn ein großer Teil des Zuverdiensts wird dann von den Hartz-IV-Bezügen abgezogen. „Ich kann ja schlecht meiner Mama sagen: ,Es ist mir egal, ob du Hunger hast, ich will mir neue Anziehsachen kaufen, deswegen kriegst du jetzt weniger Geld.’“ Also verdiente sie nur den erlaubten Zuverdienst von 100 Euro, um tanzen zu können und mit Freundinnen Ausflüge zu machen. Ihr Job: die Leitung einer Informatik-AG an der Schule.
Die Mutter lebte unter dem Existenzminimum
Der Sinn hinter dieser Regel: Kinder sollen nicht für ihre Eltern arbeiten. Über dieses Argument kann Heinrich nur den Kopf schütteln. Kinder, die in Familien leben, deren Verdienst gerade so über dem Hartz-IV-Satz liegt, dürften schließlich auch arbeiten. Außerdem sei es ein Vorurteil, dass Eltern das Geld für sich nutzten, etwa für Zigaretten. Sarah-Lee Heinrich möchte nicht viel über ihre Eltern preisgeben. Aber ihre Mutter habe sie nicht nur gestärkt, ihr ermöglicht von einem besseren Leben zu träumen, sie habe ihre Bedürfnisse zurückgestellt, um der Tochter etwas zu ermöglichen. „Sie hat quasi unter dem Existenzminimum gelebt.“
Heinrichs Wut ist spürbar. „Ich finde Hartz4 echt scheiße“, schreibt sie auf Twitter. Die Gesellschaft betrachte Armut als individuelles Scheitern. Schon die Jüngsten würden so stigmatisiert. „Aber es sind erstmal Kinder.“ Sie könnten nichts dafür, dass sie einen schwereren Start ins Leben haben. „Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen.“
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Rückblickend war der schwierigste Schritt, auszuziehen. „Ich hatte ja keine Rücklagen.“ Aber für eine Wohnung braucht man Möbel. Ihre Patentante hatte für sie gespart, damit sie ihren Führerschein machen konnte. Aber sie nutzte das Geld lieber für etwas anderes: „Damit habe ich die Kaution bezahlt.“
„Ich hatte Glück“, sagt Sarah-Lee Heinrich bescheiden. Und das immer wieder. Sie bemühte sich um ein Schülerstipendium. Und bekam eines vom Programm „Ruhrtalente“. Sie bewarb sich für einen Förderpreis bei der Frauenorganisation Zonta – und gewann. Und jetzt lebt sie von einem Stipendium, bei dem sie das Bafög am Ende nicht zurückzahlen muss. Und dann gab es noch Lehrer, die sie unterstützt haben. Aber nicht jedes Kind habe dieses Glück: „Es kann nicht sein, dass jemand zufällig in der richtigen Klasse sitzt und die richtige Förderung erhält.“ Die Politik dürfe sich nicht aus der Verantwortung stehlen und darauf setzen, dass Vereine die Förderung übernehmen.
„Kinder haben einen eigenen Anspruch auf Geld.“
Sarah-Lee Heinrich versteckt sich nicht mehr. Sie gibt Kindern, die in Armut leben, eine Stimme, engagiert sich im Bundesvorstand der Grünen Jugend und kämpft für die „Kindergrundsicherung“. „Kinder haben einen eigenen Anspruch auf Geld.“ Damit ermögliche man ihnen einen guten Start und nehme ihnen eine große Bürde. „Armut macht sehr viel mit einem, weil einem immer wieder eingeredet wird, man sei selbst schuld daran.“