Dortmund/ Datteln. Als Kitas coronabedingt dicht waren, sahen viele das Kindeswohl gefährdet. Wir haben Familien besucht, die sich gegen die Kita entschieden haben.

Laila Boulakhrif ist glücklich. Sie hat eine Lebensentscheidung für sich und ihre Kinder getroffen. Sie sitzt in ihrer Küche im Dortmunder Westen, Faris (2) und Naima (4) spielen im Wohnzimmer nebenan mit Knete. Mit Tränen in den Augen sagt sie: „Ich dachte immer, man sollte das so machen. Die Leute sagten immer: ‚Geh so schnell wie möglich in deinen Beruf zurück, tu was für dich, gib die Kinder ab, dann bist du entlastet. Die Kinder sollen doch gesellschaftsfähig werden‘. Es gab sehr viel Druck von außen und dann habe ich das eben so gemacht.“

Die OP-Schwester gab ihre Tochter Naima mit 15 Monaten zu einer Tagesmutter. So wie es viele Eltern taten, oft schon mit einem Jahr, auch ohne dann arbeiten zu gehen. Doch der Gedanke, „ein Kind, das noch nicht mal sprechen kann“ abzugeben, quälte sie, „es fühlte sich unnatürlich an.“ Später wechselte Naima in einen Kindergarten. 2019 kam der Bruder Faris in Betreuung: eine Großtagespflege, acht Kilometer von Naimas Kita entfernt, in der es keinen Platz für ihn gab.

Endlich ohne Zeitdruck

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„Ich war immer unter Stress“, erzählt die 33-Jährige. „Naima wollte oft zu Hause bleiben oder früher abgeholt werden und nachmittags war sie so platt und überreizt, dass wir eigentlich nichts mehr unternehmen konnten. Faris war sehr anhänglich und panisch, dass ich wieder weggehen könnte. Da habe ich mich gefragt: Wann hast du eigentlich die schöne Zeit mit deinen Kindern?“ Darüber hinaus habe sie keinem gerecht werden können: nicht dem Job, nicht den Kindern und nicht sich selbst. Und dann kam Corona und die Kitas waren geschlossen. Boulakhrifs Mann musste als Oberarzt arbeiten, sie war mit den Kindern zu Hause. „Plötzlich war alles so viel entspannter. Wir haben die Dinge ohne Zeitdruck gemacht, das war wirklich schön. Und da habe ich gemerkt: Das ist der Grund, warum ich überhaupt Kinder bekommen habe. Um sie aufwachsen zu sehen, und nicht, um sie besonders schnell groß zu bekommen.“ In Absprache mit ihrem Mann kündigte sie die Betreuungen. Wenn Naima älter ist, soll sie zur Vorschule gehen. Solange aber bleibt sie mit Mama und ihrem Bruder zu Hause. Sie geht gemeinsam mit ihnen einkaufen, auf den Wochenmarkt, auf Spielplätze, bringt der älteren Nachbarin selbst gebackenen Kuchen und lernt ihre Werte von ihrer Mutter im Alltag.

„Ich glaube inzwischen, man redet sich ein, dass ein Kind in Fremdbetreuung besser dran ist. Aber meine Kinder sind glücklicher zu Hause. Dass Kinder mit zwölf Monaten Gruppengefüge oder Sozialverhalten lernen, ist ein Irrglaube“, meint die Mutter. „Da verzichte ich lieber auf ein zweites Gehalt und dann eben auch mal auf einen Urlaub.“

Neben hoher Motivation der Eltern müssen auch die Rahmenbedingungen stimmen

Laila Boulakhrif bleibt mitihren Kindern Naima (l.) undFaris zu Hause.
Laila Boulakhrif bleibt mitihren Kindern Naima (l.) undFaris zu Hause. © Privat | Privat

Norbert Zmyj, Professor für Entwicklungspsychologie an der TU Dortmund, sagt: „Es gibt immer sehr viel Meinung dazu, was Eltern mit ihren Kindern machen sollten. Aber ich habe sehr viel Vertrauen in die Eltern, denn in der Regel kennen Eltern ihre Kinder mit ihren Bedürfnissen und Eigenarten am besten.“ Die meisten Eltern seien hoch motiviert, den Kindern einen guten Start ins Leben zu bereiten. Dabei spielten aber auch die Rahmenbedingungen eine Rolle. Zmyj zählt drei Punkte auf: Zum einen geht ein niedriger sozialökonomischer Status häufiger mit psychischen Erkrankungen, einer fehlenden Berufsausbildung oder Arbeitslosigkeit einher. Diese Probleme belasten die Beziehung zu den Kindern, die sich dann nicht optimal entwickeln können. Zum Zweiten muss die Qualität der Kita stimmen. Beim Betreuungsschlüssel gebe es vor allem im U3-Bereich große Unterschiede. „Es darf keine reine Versorgung der Kinder geben, sondern es sind echte Ansprache und Aufmerksamkeit nötig.“ Dazu bestehe das Risiko eines häufigen Wechsels der Betreuungspersonen, „und der stellt für ein Kind in dem Alter einen schweren Verlust dar“. Und drittens sei es wichtig, dass ein Kind nicht zu klein ist: „Wenn das Kind unter einem Jahr ist und die außerhäusliche Betreuung einen Großteil der Zeit einnimmt, gibt es wirklich massive Probleme bei der Bindung an die Eltern“, so Zmyj. Kritisch seien auch die Jahre eins bis drei. Für den kognitiven Bereich der Kinder gebe es keine Schwierigkeiten, womöglich aber für den sozial-emotionalen Bereich. Studien belegten, dass intensive außerhäusliche Betreuung mit impulshaften und riskanten Verhaltensweisen im Jugendalter im Zusammenhang stehen können. „Es gibt gesellschaftliche Kräfte, die es ablehnen, dass Mütter die Kinderbetreuung selbst übernehmen, auch wenn sie das wollen. Da hat sich das Ideal stark gewandelt“, so Zmyj. „Ich bin grundsätzlich dafür, dass Eltern frei entscheiden können, wie ihre Kinder betreut werden und Kitas spielen dabei für viele Eltern eine wichtige Rolle. Aber es gibt auch gerade in der U3-Betreuung Probleme und die verschwinden nicht, indem man diese problematischen Bereiche ignoriert.“

„Nicht jeder lebt in Bullerbü.“

Zmyjs Bochumer Kollegin Birgit Leyendecker sieht das weniger kritisch: „Für den Aufbau der Bindung eines Kindes an seine Eltern sind die ersten zwölf Monate besonders wichtig. Auf jeden Fall müssen Eltern schauen, wie sie für ihre Kinder eine anregende Umwelt schaffen können. Nicht jeder lebt in Bullerbü.“ Insgesamt sei ein Kindergarten aber gewinnbringend für die kindliche Entwicklung. Schon um Sozialkompetenz zu erlernen. Nur komme es auf die richtige Dosis der Fremdbetreuung an.

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Laila Boulakhrif widerspricht: „Weder mein Mann noch ich waren in einem Kindergarten und aus uns sind sehr soziale Menschen geworden.“ Silke und Christian Broermann aus Datteln sehen das ähnlich. Als Silke Broermann mit Jonas schwanger wurde, war sie 18 und ging noch zur Schule. „Mit acht Wochen gab ich ihn zu einer Tagesmutter. Ich war das komplett gewohnt, alles so zu machen wie von der Gesellschaft vorgegeben. Ich habe gemacht, was man eben macht“, sagt die heute 37-Jährige. Nach der Ausbildung zur Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin arbeitete sie im Schichtdienst. Christian betreute Jonas und die gerade geborene Nina neben seinem damaligen Job als Automobilkaufmann.

Wechselndes Kita-Personal

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„Jonas hat sich sehr zurückgestellt gefühlt und sehr viel geweint“, erzählt Silke Broermann. „Das war das erste Mal, dass ich dieses Betreuungssystem infrage gestellt habe. Trotzdem ging auch Nina zunächst noch in einen Kindergarten, aber es gab Probleme. Mit einer dominanten Erzieherin, mit dem häufig wechselnden Personal. „Nina hat sich an meinem Bein festgehalten und wollte mich nicht gehen lassen“, erinnert sich Silke Broermann. „Da wurde mir klar, dass die Familie nicht so zurückstecken soll und habe meinen Beruf aufgegeben, um für sie da zu sein.“ Zur Vorschule kam Nina zurück in den Kindergarten und wurde letztlich sogar vorzeitig eingeschult. Heute, mit zwölf, macht sie viel Sport, hat Freunde und ist gut in der Schule.

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Als 2017 die dritte Broermann-Tochter in die Kita kam, sei das eine sehr lieblose gewesen. „Sie hat nicht verstanden, warum ich weggehe“, erzählt Silke Broermann, „und sagte ‚Mama, ich lieb dich doch, warum verlässt du mich?‘“ Und jetzt, wo die vierte Tochter Julie drei geworden ist, steht die Entscheidung: Keine Kita für sie.

„Wir wohnen sehr bescheiden“, sagt Christian Broermann (44), „und haben vieles hintangestellt, um unsere Kinder selbst zu betreuen.“ „Wir haben zum Beispiel kein Auto, weil uns das zweite Gehalt fehlt“, ergänzt seine Frau Silke. „Aber wir sind viel draußen, fahren Fahrrad, basteln und lesen viel. Und unsere Kinder sind ein Beispiel dafür, dass es auch ohne Kindergarten geht. Sie können sich benehmen und das beste Sozialverhalten lernen Kinder in der eigenen Familie.“