Bochum/Duisburg/Dortmund. Krieg im Kinderzimmer! Sollen Eltern als Streitschlichter eingreifen? Ein Ratgeber, wie Folgen von Bettnässen bis Türenknallen zu vermeiden sind.

Neulich Morgen, erinnert sich Nadja Moutevelidis, war Silas als erster wach. Er fing an, mit Lego zu spielen. Baute, tief versunken und eifrig, ein Haus auf einer Platte. Dann wurde seine Schwester Savannah wach, ging zu ihm, riss ihm die Platte aus der Hand und sagte „meins!“

Silas verteidigte verbissen sein Kunstwerk, es wurde laut zwischen den Geschwistern. „Ich habe die beiden erst mal beobachtet, dann versucht, Savannah zu erklären, dass Silas zuerst da war und dass Savannah sich etwas Neues bauen soll“, erzählt Nadja Moutevelidis. Die 44-Jährige lebt in Dortmund und ist Mutter der beiden 32 Monate alten Zwillinge. Savannah sei die Dominante, Silas eher der Entspannte. Lange hatte sich Silas alles von seiner Schwester gefallen lassen, erinnert sich die gelernte Justiz-Sachbearbeiterin. „Irgendwann habe ich festgestellt, dass Silas angefangen hat, sich zu wehren. Seitdem kommt es zum Streit zwischen ihnen“, erzählt sie.

Als die beiden ihr an diesem Morgen überhaupt nicht zuhörten, ging sie erst mal ins Bad. Als sie dann zurückkam, saßen die Zwillinge auf dem Sofa, bauten einträchtig gemeinsam. „Das war eine tolle Erfahrung zu sehen: Die regeln das alleine.“ Nicht immer sei ein Dritter dabei, der die Situation befriedet, sagt Nadja Moutevelidis. „Da müssen sie lernen, sie selber zu lösen.“

Zwillinge mit eigenem Charakter: Silas (l.) und Schwester Savannah (32 Monate) mit ihren Eltern Nadja und Poli Moutevelidis in Essen.
Zwillinge mit eigenem Charakter: Silas (l.) und Schwester Savannah (32 Monate) mit ihren Eltern Nadja und Poli Moutevelidis in Essen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Ein Beispiel wie aus dem Erziehungsratgeber. Dem würde auch Alfred Schweer, Diplom-Psychologe und Leiter der Caritas-Erziehungsberatung in Bochum, zustimmen. „Wenn Eltern als Schiedsrichter fungieren, ist das nie gut. Meistens sind sie bei den Streits zwischen Geschwistern ja gar nicht dabei“, sagt er. Nur wenn es zu körperlichen Auseinandersetzungen komme, müsse man natürlich eingreifen. Fast immer gehe es bei Streitereien um Aufmerksamkeit und Zuwendung der Eltern. Denn wenn ein neues Kind, ein Geschwisterchen geboren wird, muss die Aufmerksamkeit plötzlich geteilt werden.

„Jedes Kind versucht dann, die Zuwendung auf eigene Weise zurückzubekommen. Viele ältere Kinder reagieren zum Beispiel so, dass sie in alte, kleinkindliche Muster zurückfallen, zum Beispiel plötzlich wieder zu Bettnässern werden.“

Kinder sind Konkurrenten

Kinder sind meist von Grund auf Konkurrenten, weiß Schweer. Sie konkurrieren um ihre Eltern. Generell gelte: Je näher Geschwister altersmäßig aneinander liegen, desto größer ist die Rivalität. Und bei gleichgeschlechtlichen Geschwistern noch mehr. Zweieiige Zwillinge wie Savannah und Silas seien, sagt Schweer, demzufolge nur Geschwister. Im Umkehrschluss heißt das: Je größer der Altersabstand, desto unterschiedlicher sind die Interessen, desto geringer ist die Konkurrenz.

Auch in der Familie Wons, die am Stadtrand von Duisburg lebt, entstehen regelmäßig Konflikte zwischen Sohn (15 Jahre) und Tochter (fast 13). „Momentan kommt es in erster Linie dann zu Streit, wenn sich unsere Teenie-Tochter in ihr Zimmer zurückzieht und unser Sohn sie etwas fragen beziehungsweise ihr etwas erzählen oder zeigen möchte“, erzählt Mutter Patricia Wons.

„Die veränderten Bedürfnisse in der Pubertät führen zusammen mit einer relativ kurzen Zündschnur auf beiden Seiten dazu, dass sich eigentlich harmlose Situationen schnell hochschaukeln. Das Ganze läuft dann auf knallende Türen hinaus.“ Die 42-Jährige findet es wichtig, eine offene Streitkultur vorzuleben und Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg zu gehen. Konflikte seien normal und gehörten zum Familienleben. Nur wenn die Kinder unfair streiten, sich gegenseitig beleidigen, greife sie ein.

„Um Kinder nicht zu Rivalen zu erziehen, ist es aus meiner Sicht hilfreich, viel Zeit für gemeinsame Familienaktivitäten einzuplanen, die Kinder gerecht zu behandeln und ihre Stärken und Schwächen nicht zu vergleichen“, sagt Patricia Wons.

Abklatschen im Kinderzimmer: Bei Silas ist die kleine Welt wieder in Ordnung, da freut sich auch Vater Poli. Gelassenheit hilft.
Abklatschen im Kinderzimmer: Bei Silas ist die kleine Welt wieder in Ordnung, da freut sich auch Vater Poli. Gelassenheit hilft. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Auch das kann Diplom-Psychologe Alfred Schweer bestätigen. „Kinder sollten nie gleich behandelt, sondern in ihren jeweiligen Stärken und Rollen gefördert werden“, sagt er.

„Die Rivalität wird oft von den Eltern gefördert, wenn sie zum Beispiel ihre Kinder miteinander vergleichen. Das hat meist Neid zur Folge.“

Wenn Eltern zu ihm in die Erziehungsberatungsstelle kommen, ist der Anmeldegrund fast nie „Geschwisterrivalität“, sondern „Ängstlichkeit“, „Schulprobleme“ oder eben „Bettnässen“. Im Laufe des Gesprächs werden Rivalitäten unter Geschwistern aber oft zum Thema.

Zum Beispiel, als sich herausstellte, dass der fünfeinhalbjährige Bettnässer sich gegenüber seiner zweieinhalb Jahre jüngeren Schwester benachteiligt fühlte. Oder bei den beiden Geschwistern, deren Eltern sich getrennt hatten. Jedes zog zu einem Elternteil, woraufhin die Geschwister, die vorher nett und liebevoll zueinander waren, plötzlich zu Rivalen wurden. „Sie waren gefangen im Konflikt der Eltern“, erinnert sich Schweer. „Auch hier hat geholfen, sich individuell mit jedem Kind zu beschäftigen und die Frage: Wie kann ich das Selbstbewusstsein der Kinder stärken.“

Das ist mein Spielzeug

Die Zwillinge Savannah und Silas streiten sich meist um etwas, das der eine hat und der andere auch möchte: Spielzeug, Brotdose oder auch Zuwendung. „Der Familienalltag ist ja aber insgesamt schon stressig genug“, sagt Zwillingsmama Nadja Moutevelidis, „da bin ich eher der entspannte Typ. Ich glaube, das Größte, was wir unseren Kindern schenken können, ist ein Stück loszulassen und ihnen zu vertrauen.“

Nadja Moutevelidis schreibt auch über ihren Familienalltag, in einem eigenen Mamablog: „Als ich die gefühlte 50.000te Windel gewechselt habe, dachte ich, ich brauche auch mal ein bisschen Abwechslung.“ (mamablog-naaamama.de)

Weiterlesen zum Thema:

Nicola Schmidt: „Geschwister als Team. Ideen für eine starke Familie.“ (Kösel, 240 S., 18 €) Die zweifache Mutter, Wissenschaftsjournalistin und Autorin zahlreicher Erziehungsratgeber beschreibt darin, wie es Eltern schaffen, in Kontakt mit ihren Kindern zu bleiben. Das sei der Schlüssel zu einem starken Geschwisterteam, schreibt sie.

Für kleine Kinder: Doris Rübel: „Helfen, teilen, sich vertragen.“ (Ravensburger, 16 S., 9,99 €, ab 2). Das Kinder-Sachbuch mit kurzen Texten und Illustrationen rund um Geschwisterstreit. Hinter den Klappen verstecken sich Lösungsvorschläge.

Für ältere Kinder: Sigrun Eder: „Konrad, der Konfliktlöser – Clever streiten und versöhnen“ (Edition Riedenburg, 76 S., 19,90 €, ab 8). Konrad ist zehn. Seine sechsjährige Schwester Hannah macht ihn regelmäßig wütend: Wenn sie wieder sein Zimmer durchstöbert. Die Psychotherapeutin und Autorin Sigrun Eder zeigt in der Geschichte, wie sich Konflikte lösen oder man sie sogar vorbeugen kann.