Moers. Leben ohne zu erleben: Lisa ist schwerstbehindert – und bekommt jetzt nach 30 Jahren eine eigene Stimme. Ihre Geschichte aus ihrer Perspektive.
Lisa Marie Ingenillen liegt im Wohnzimmer auf der Couch. Die schmale junge Frau sieht zufrieden aus, wie sie da einfach etwas ausruht. Lisa sammelt Kräfte. Wie so oft. Die braucht die 30-Jährige aus Moers zum Leben. Ein Leben, das völlig anders ist als bei allen anderen Menschen in ihrem Alter. Sie chillt nicht, kennt weder YouTube noch Instagram. Das aktuelle Tagesgeschehen geht an ihr vorbei, auch Corona ist ihr kein Begriff. Lisa ist schwerstbehindert. „Lieschen ist das kleine Sahnehäubchen auf dem Leben“ sagt Mutter Claudia Ingenillen (54) und es klingt gar nicht trotzig, sondern selbstverständlich.
Ihre Tochter liebt Quietschetiere, kuschelt gerne und lauscht Mama, wenn sie leise singt. Sie kann lachen, weinen und hören, ist aber nahezu blind. Geistig bleibt Lisa auf dem Stand eines acht Wochen alten Babys, kann nichts alleine. Nicht einmal ihre Hand heben, um eine Fliege zu vertreiben.
Mit einer kleinen Spritze fing es an
Dabei kam Lisa Ingenillen gesund zur Welt. Ein Kaiserschnitt ohne Komplikationen. „Die Ärzte fanden aber, weil sie auch zwei Wochen zu früh kam, dass sie etwas zu leicht war“, erzählt Mutter Claudia. Sie entschieden, dass Lisa zur Versorgung in eine Kinderklinik musste. Mit einem Krankenwagen ging es für den gerade geborenen Säugling von der Duisburger Geburtsklinik nach Krefeld. Dort begann das Schicksal der kleinen Lisa. Sie lag in einem Wärmebettchen, wurde mit einer Spritze über eine Sonde ernährt. Mehrmals täglich. Die Mutter erinnert sich: „Es lag immer ein Waschlappen neben dem kleinen Köpfchen. Dort eingeschlagen wurde die Spritze aufbewahrt, die für Lisas Nahrung war. Wir haben das nicht hinterfragt. Wir waren junge Eltern und vertrauten den Ärzten und Schwestern.“ Doch heute weiß Claudia Ingenillen, dass es eine Einwegspritze war, die in einem Wärmebettchen nichts zu suchen hat.
Multiresistente Keime nisteten sich darüber in dem winzigen Körper ihrer Tochter ein. Völlig unentdeckt. Diese Keime zerstörten das Gehirn. „Auf den MRT-Aufnahmen sind so viele weiße Flecken, alles abgestorben – es sah aus wie ein Schweizer Käse.“ Auch wenn diese Tragödie erstmal das Leben der noch jungen Eltern bestimmte, sie waren gerade Mitte zwanzig, entschlossen sie sich bald für ein normales Leben. Sie wollten Eltern sein, ein Familienleben haben. Und so kamen Lisas Schwester Sophie und dann auch noch ihr Bruder Niklas schließlich zur Welt. Beide Kinder sind gesund. „Wir wollten am normalen Leben teilhaben können, zu Elternabenden, Krabbelgruppen und Freunden gehen. Wir wollten unser Haus mit Leben füllen“, erzählt Claudia Ingenillen. Es war ihr wichtig, dass bei ihnen Kinder spielten und Lärm machten.
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Eine kleine Auszeit für die Mutter
Sophie und Niklas lieben ihre Schwester abgöttisch, mit Hund und zwei Katzen ist immer was los. Lisas Krankheit sollte nicht allein das Ehe- und Familienleben bestimmen. „Wir wollten nicht in der Welt der Behinderung gefangen sein.“ Lisa kam in den Kindergarten, später brachte sie ein Fahrdienst zur Schule und sogar in eine Behindertenwerkstatt. Zu Hause ist die Mutter immer für sie da. Lisa, die weder krabbeln noch alleine sitzen kann, ist rund um die Uhr auf Pflege und Fürsorge angewiesen. Seit 30 Jahren ist sie immer in der Nähe von Claudia Ingenillen.
Harmonisch und unaufgeregt
Nur an manchen Tagen nimmt die Mutter sich eine kleine Auszeit von zu Hause, wenn sie arbeiten geht. Sie ist seit einiger Zeit als Verkäuferin im Apfelparadies beschäftigt. „Ich habe mich da vor ein paar Jahren einfach beworben und als ich genommen wurde, habe ich ihnen gesagt, dass ich wahrscheinlich nicht die zuverlässigste Mitarbeiterin bin, weil meine Tochter mich oft spontan braucht.“ Dass war dem Arbeitgeber zum Glück egal, Arbeit und Ablenkung tun der Mutter gut. „Es ist ein Stück Normalität. Ich tausche mich mit meinen Arbeitskollegen aus, lache viel und sehe andere Menschen. Das brauche ich zwischendurch.“ Die Mutter reicht Lisa das Essen mit einem Löffel, das dauert länger als über einen künstlichen Eingang mit Schlauch, aber so hat Lisa wenigstens ein Geschmackserlebnis. Richtige Erlebnisse sind rar in ihrem Leben.
Alles wird halt immer sein wie bei einem Säugling. Lisas Mama sorgt für das Essen, sie wäscht und wickelt Lisa. Wenn sie nicht schlafen kann, singt die Mutter sie in den Schlaf. Eingespielte Prozesse, sehr harmonisch und unaufgeregt. In dem behindertengerechten Bungalow in Moers schiebt sie den Rollstuhl, in dem Lisa viel Zeit verbringt, gern an das große Panorama-Wohnzimmerfenster, „weil Lisa Licht wahrnehmen kann“.
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Lebensgefährliche Krämpfe
Trotzdem gibt es immer wieder Momente der Dunkelheit. Lisas Leben ist bestimmt von Krämpfen, dann zuckt der zarte Körper heftig und kämpft. „Ein Arzt sagte mal, dass jeder Krampf tödlich sein kann. Mit diesem Wissen mussten wir erstmal lernen zu leben. Man muss die Angst um seine Tochter unterdrücken. Sonst wird man verrückt“, sagt die Mutter. Sie kann mittlerweile sehen, wenn sich ein Krampf in Lisas Körper zusammenbraut. „Lisa ist wetterfühlig. Es kann morgens strahlend blauer Himmel sein. Doch sie merkt, dass bald Wolken auftauchen und sich zu einem Unwetter zusammenziehen. Dann versuchen wir, es aufzuhalten.“ Das funktioniere oft mit CBD-Öl, einem Cannabismedikament. „Seit Lisa das bekommt, krampft sie deutlich weniger.“ Überhaupt: Mitleid sei nicht angebracht. „Von außen sieht unsere Situation schwerer aus, als sie sich von innen anfühlt.“
Zu Lisas 30. Geburtstag hat Claudia Ingenillen ihrer Tochter nun ein besonderes Geschenk gemacht. Sie schrieb ihre Geschichte auf, das Buch heißt „Lisa – ich bin einfach“. Zu verstehen wie: Ich bin einfach da, nicht mehr und nicht weniger.
Ein Buch aus Lisas Sicht
Ein Buch, das diese extremen Erfahrungen teilen will, das Familien mit ähnlichem Schicksal Mut machen soll. „Mut, das Leben anzunehmen – und: zu leben.“ Claudia Ingenillen schreibt aus der Sicht ihrer Tochter. Damit Lisa so zum ersten Mal in ihrem Leben eine Stimme bekommt.
Multiresistente Erreger
Infektionen durch Bakterienlassen sich meist gut mit Antibiotika behandeln. Einige Bakterien sind jedoch unempfindlich gegenüber vielen Antibiotika. Man spricht in diesem Fall von multiresistenten Erregern – kurz: MRE. Am bekanntesten ist der methicillinresistente Staphylococcus aureus – kurz: MRSA. Bei diesen Erregern wirken die meisten Antibiotika nicht.
Für gesunde Menschen mit einem guten Abwehrsystem sind multiresistente Erreger in der Regel harmlos. Das heißt: Bei Kontakt mit diesen Bakterien ist das Risiko zu erkranken sehr gering. Gesunde können multiresistente Erreger in sich tragen, ohne selbst zu erkranken. Sie wissen meist nicht, dass sie MRE-Träger sind. Problematisch wird dies dann, wenn sie diese Erreger unbewusst auf Menschen mit geschwächter Abwehr übertragen. Diese sind besonders gefährdet, Infektionen zu entwickeln, die dann schwerer zu behandeln sind.
Claudia Ingenillen: Lisa – ich bin einfach, 12,90 Euro bei Books on Demand, ISBN 9783751914185)
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