Essen. Nicht nur Aluhüte mischen bei Corona-Demos mit. Mit diesen Skeptikern reden? Zumindest mit denen, die noch zu retten sind, fordert ein Professor.
Es eskaliert. Da draußen, auf der Straße, toben sie: eine unheilvolle Allianz aus Nazis, Verschwörungsanhängern, Impfgegnern und Entrechteten – Skeptiker oder Covidioten? Da drinnen, im Internet, wohnen und wüten sie. Auf die Regierung, auf die Medien, ach: auf alles. Die große Gereiztheit nennt Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen dieses Selbstbestätigungsmilieu – Extremisten in Filterblasen. Weil solche Corona-Demos eine Demokratie durchaus erschüttern können, fordert der 51-jährige Professor von der Universität Tübingen gemeinsam mit dem Hamburger Psychologen Friedemann Schulz von Thun (75) in ihrem Buch „Die Kunst des Miteinander-Redens – Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ eine neue Streitkultur. Den kommunikativen Klimawandel. Und sieht nach der Flüchtlingsfrage und Fridays for Future mit der Pandemie die dritte polarisierende Radikalisierungswelle in unserem Land.
Promis wie Attila Hildmann, Xavier Naidoo oder Sido sind wenig hilfreich
Pörksen hinterfragt im Gespräch mit unserer Zeitung: „Sind das überhaupt alles Covidioten?“ Deshalb sei es umso wichtiger, Gesprächsangebote zu machen, „um ein Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern, Zusammenhalt und Kompromissfähigkeit zu bewahren“. Das Problem bleibt, dass es zu viel Pöbeleien, Hass, Aggressionen und Hetze gibt.
Pörksen: „Das heißt nicht, dass man einen Antisemiten nicht Antisemit nennen soll, das sollte man unbedingt, es braucht eine rote Linie in der Debatte. Aber es heißt doch zu unterscheiden, zwischen denen, die vorne stehen und ihren hysterischen Hass herausbrüllen, und denen, die vielleicht einfach nur mitlaufen und sich Sorgen machen um die Einschränkung der Grundrechte. Dabei laufen sie Gefahr, vereinnahmt zu werden. Man sollte sie nicht pauschal attackieren und abwerten. Deren Immunität gegen hartgesottene Ideologen ist einfach noch nicht ausreichend entwickelt. Man muss sprechen und streiten. Das nenne ich die Zukunftstugend der respektvollen Konfrontation.“ Da könne man sich nicht im Stuhlkreismodus nähern und sagen, „gut, dass wir darüber geredet haben.“
Verschobene Grenzen des Sagbaren
Wie konnte es so weit kommen? Zu dieser toxischen Situation: Sind es ein paar faule Äpfel oder ist das ganze Feld vergiftet? Nun, die Entwicklung, ganz profan betrachtet, ist ein Rausch: Benötigte das gute alte Telefon noch 75 Jahre, um von 100 Millionen Menschen benutzt zu werden, brauchte das Mobiltelefon dafür noch 16 Jahre, Facebook 4,4 und WhatsApp und Instagram nur mehr 2,2. Bei diesem Innovationstempo verwundert es nicht, dass die Mehrheit der Deutschen glaubt, verfälschten Wirklichkeiten ausgesetzt zu sein. Lügenpresse, Lügenpresse! So verschieben sich die Grenzen des Sagbaren. Und schon heißt es „Merkel, du Fotze“ und Bill Gates wird zum neuen Dietmar Hopp.
Oder wie einer der Negierer diese Woche in der Tagesschau meinte: „Die Nachrichten in der Zeitung passen gar nicht zu meinen Erkenntnissen im Internet.“ Denn auch das gehört zur Wahrheit der sozialen Medien: Eine korrekte Information braucht sechs Mal so lang wie eine Falschbehauptung, um 1500 Nutzer zu erreichen. Im Umkehrschluss bedeutet das, Fake News werden 70 Mal mehr geteilt.
Bleiben wir online und wenden uns dem Widerspruch zu, wieso Menschen glauben, sie dürfen in diesem Land nicht ihre Meinung sagen, und dies damit doch bereits getan haben – ungeahndet. Aber eben nicht unwidersprochen. Pörksen: „Man darf alles sagen, aber man bekommt unter Umständen eine Gegenrede. Mancher scheint zu glauben, Meinungsfreiheit sei das Recht, unwidersprochen seine Meinung sagen zu dürfen. Aber es gibt kein Menschenrecht auf Beifall.“
Generell seien wir doch bestätigungssehnsüchtige Wesen. „Mit dem Netz haben wir ein Medium, dass dem sehr weit entgegenkommt. Wir können uns in unser Selbstbestätigungsmilieu hineingoogeln, befeuert von Likes, ohne die Reibung mit der Agenda der Allgemeinheit.“ Durch die Illusion der Mehrheitsmeinung wird das eigene Wort zum Vollstrecker des vermeintlichen Volkswillens…
Und doch ist man auch unter seinesgleichen nicht unter sich. Auch nicht in den Foren von Schalke und BVB etwa. „Wir kommen uns schlicht und einfach alle zu nahe, wir können uns nicht mehr ausweichen“, analysiert der Wissenschaftler. „Das ist die Tiefenursache für die große Gereiztheit. Wir sehen, was der Nachbar, was der Kollege auf Facebook postet und sind mit der totalen Unterschiedlichkeit konfrontiert. Der Reflex ist, dass nichts unerwidert bleibt. Die Ultrakurzformel lautet: Vernetzung verstört. Wir leben in unseren Blasen, sind aber permanent mit den Blasen der Anderen konfrontiert. Ich nenne das den Filter-Clash.“
„Bayern München und Friedrich Merz wollen volle Inszenierungs-Autorität behalten“
Dass die Medien, die sich seriös nennen, für ihre Inhalte im Internet auch noch Geld verlangen, vergrößert die Kluft. „Auf der anderen Seite erscheint mir die Forderung, jetzt alle Pay-Walls niederzureißen, als irreal. Man verschenkt ja auch keine anderen, hochwertig produzierten und kostenpflichtigen Güter“, sagt der Kommunikationsforscher. Besser: in Medienbildung zu investieren. „Das Publikum muss verstehen, wie existenziell bedeutsam guter Journalismus ist. Aber das er eben auch etwas kostet.“ Was fehlt: „Elementare Quellen-Kompetenz. Eine gigantische Medienbildungslücke wird hier offenbar, wir erleben eine regelrechte Infodemie.“
Was wenig hilft: Wenn Vereine wie Meister München mit dem FC Bayern-TV selbst auf Sendung gehen oder ein Kanzlerkandidat wie Friedrich Merz unverhohlen über eigene Kanäle Inhalte transportiert. Ohne Kontrolle, ohne Einordnung, ohne Widerspruch durch herkömmlichen Journalismus. Jeder kann senden. Keine gute Entwicklung, sagt Pörksen, weil PR und Journalismus verwechselt würden. „Journalismus, der unangenehme Fragen stellt, ist wichtiger denn je – und die Genannten haben eben Schwierigkeiten mit unangenehmen Fragen und wollen lieber die volle Inszenierungs-Autorität behalten.“
Was wenig hilft: Talkshows, zumindest jene der „inszenierten Showkämpfe“, so Pörksen. „Ich wünsche mir eine Talkshow, in der eine Stimmung qualifizierter Nachdenklichkeit herrscht. Seine eigene Position zu überdenken, kommt leider so gut wie nie vor.“
Was wenig hilft: Schubladen wie ‚weißer alter Mann‘. Pörksen: „Das ist die Arroganz der Abwertung, die eines unter Garantie tut: kränken. Hysterische Feministin, krimineller Flüchtling – alles pauschale Vokabeln, die garantiert kontraproduktiv sind, wenn man in einen Dialog treten will.“
Kontemplation ist das neue Koffein
Was wenig hilft: Wenn Prominente wie Attila Hildmann, Xavier Naidoo oder Sido sich den Aluhut aufsetzen. Pörksen: „Das ist absolut verheerend. Man sieht hier, welche Rolle Influencer spielen gerade im Moment bei der Verbreitung von Desinformations-Müll. Eine Extremsituation, die vielen Menschen Angst macht, ist die große Stunde der Falschmeldung.“ Und weiter: „Verschwörungstheorien sind ja so etwas wie Weltformeln des Übels, die sich kaum widerlegen lassen. Es gibt keine Beweise, aber der geübte Verschwörungstheoretikern kann noch die Nicht-Beweisbarkeit zum Beweis umdeuten – nach dem Motto: Die Verschwörer sind so raffiniert, dass sie geschickt alle Spuren verwischen…“
Professor Pörksen rät im Angesicht des Schrecklichen zur Demut, statt ständige Sensationsergötzung auszuleben, nennt Kontemplation das neue Koffein. Aber wie kommen wir zurück zu Dämpfung, Abkühlung, Mäßigung, mit welcher Entzugsstrategie – Ferien im Funkloch? „Die Mehrheit der Menschen ist rational, verhält sich in Zeiten der existenziellen Bedrohung durch die Pandemie außerordentlich vernünftig und ruhig. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Kommunikationsklima von den Lauten, den Hassenden, den Pöbelnden an den Rändern bestimmt und ruiniert wird. Die gesellschaftliche Mitte der Gemäßigten schweigt noch viel zu laut. Achtungsvolle Kommunikation, ein hohes Maß an echter Wertschätzung, das findet zu wenig statt. Wir neigen dazu, die Extreme für das Ganze zu nehmen. Aber sie sind es nicht.“
Denn, auch das nehmen wir noch mit: „Es ist ein Unterschied, ob man kritisiert, um zu verbessern, oder um zu vernichten.“
Was die Streitkultur leisten kann und soll
Bei der Streitkultur sollte die Brücke zum Gegner ausgebaut werden, anstelle sie einzureißen. Friedemann Schulz von Thun: „Dann brauchst Du, neben dem, dass du Farbe bekennst und auf der faktischen Wahrheit bestehst, das dialogische Repertoire: Respekt vor dem Menschen, auch wenn er irrt, die wohlwollende Unterstellung, dass auch er auf seine Weise nach dem Guten und Richtigen strebt, die Empathie für das, was ihn in diese Position hineingetrieben hat, und die Bereitschaft, das Körnchen Wahrheit einzuräumen, das du in seiner Haltung entdecken kannst.“ Aus: Pörksen/Schulz von Thun: „Die Kunst des Miteinander-Redens“ (Hanser-Verlag/20 Euro).