Bochum. Durch geschlossene Kitas und Schulen brechen den Jüngsten ihre äußeren Strukturen weg. Wir haben einen Kinder- und Jugendpsychologen gefragt.

In Elternforen kursiert im Moment – neben Homeschooling- und Homeoffice-Tipps – vor allem eine Frage: „Ich glaube, wir (mein Sohn) brauchen etwas mehr Struktur“, schreibt „KrisTin“ in einer Facebook-Gruppe und bittet um Ideen für Wochenpläne. Oder „Theresa Pommer“, ebenfalls Mitglied einer Facebook-Gruppe, schreibt: „Ich habe das Gefühl, ein bisschen Struktur im Alltag täte uns allen hier momentan gut (: Hat jemand eine Idee, wo ich sowas finde?“

Kitas und Schulen sind geschlossen, die meisten Kinder zu Hause, denn die Notbetreuungen werden von den wenigsten genutzt. Sport- oder Hobbykurse, die sonst die Wochen strukturierten – montags Reiten, dienstags Musikschule, mittwochs Tanzen –, finden nicht statt. Ebenso wenig wie Verabredungen mit Freunden. Viele Familien bleiben unter sich; „stay home“. Kurz: Es fehlt die von außen gegebene Tages- und Wochenstruktur. Und selbst, wenn nun Spielplätze wieder öffnen, die Begegnungen mit Gleichaltrigen sind selten.

Die Woche wenigstens in Wochentage und Wochenende unterteilen

„Ich versuche, die Woche wenigstens in Wochentage und Wochenende zu unterteilen“, erzählt Maria Roggenmüller, Mutter eines Kita- und eines Schulkindes aus Herdecke. „Und in Lern- und Freizeit. Ihnen jeden Tag etwas Schönes zu bieten und dass sie viel mit Freunden telefonieren können. An Ideen mangelt es mir nicht.“ Aber gerade das Kind im Kita-Alter habe oft Tage, an denen er völlig frustriert und zu nichts zu motivieren sei. Es gebe Streit, Probleme mit den Aufgaben, die aus der Schule kommen, und das Homeoffice wird oft zur Kata­strophe. „Meistens turnen die Kinder bis nachmittags im Schlafanzug durch die Wohnung, Schulsachen werden oft erst abends erledigt“, erzählt die 40-Jährige.

Routine gibt Halt: Peter Binert, hier im Büro in Bochum, arbeitet nach einem tiefenpsychologischen Ansatz.
Routine gibt Halt: Peter Binert, hier im Büro in Bochum, arbeitet nach einem tiefenpsychologischen Ansatz. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Kinder brauchen Strukturen“, sagt Peter Binert, Kinder- und Jugendpsychologe mit eigener Praxis in Bochum ganz deutlich. „Wenn die fehlen, dann fehlen die Grenzen. Und das kann große Probleme verursachen.“ Schule und Kita geben allen Sicherheit, die nun anders geschaffen werden müssen. Denn Kindern fehle im Unterschied zu Erwachsenen die Fähigkeit zur Selbstregulierung. „Struktur gibt Sicherheit, oder anders gesagt: Routinen geben Halt“, sagt der Therapeut, der nach einem tiefenpsychologischen Ansatz arbeitet. „Fehlen Routinen, treten eigene Konflikte zu sehr hervor. Struktur gibt eine Taktung und das ist eine Entlastung, weil man sich nicht immer neu entscheiden muss.“

Klare Aussagesätze formulieren

Die Jugendlichen, die in Binerts Praxis kommen, sind Extrembeispiele, weil sie ihn wegen psychischer Erkrankungen konsultieren, aber einige hätten zurzeit verstärkt mit Panikattacken zu kämpfen. „Durch Isolation und die fehlenden Strukturen werden Ängste wieder aktiviert. Hier wirkt der Rückzug als Trigger“, weiß Binert.

Also rät er dringend dazu, sich eigene Strukturen zu schaffen, Grenzen zu setzen, ein eigenes Regelsystem aufzubauen. Auch wenn das erst mal Konflikte mit sich bringt. „Man sollte unbedingt diesen Konflikt wagen, denn dort findet Begegnung zwischen Kindern und ihren Eltern statt. Außerdem geben sie, wie gesagt, Halt: Mama oder Papa setzen Regeln, ich kann mich also auf sie verlassen.“ Sein Tipp zum „Strukturenschaffen“: Als Elternteil keine Fragen à la ‚,Magst du jetzt mal dein Zimmer aufräumen?“ zu stellen, sondern Aussagesätze zu formulieren und von Anfang an stringent, konsequent und präsent zu sein.

Kinder brauchen Kinder

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Bei den Schul- und Kitaschließungen gebe es zudem Unterschiede in den Auswirkungen, je nach Alter der Kinder, so Binert. „Zwischen elf und 14 Jahren melden sie sich mental komplett ab und leben in einer eigenen Welt. Später wird das wieder besser. Je älter sie sind, desto eher finden sie Ausgleichsmöglichkeiten. Kitakinder zwischen drei und sechs Jahren haben gerade die Neststruktur überwunden und beginnen sich abzunabeln. Wenn jetzt die Kitas über eine so lange Zeit geschlossen sind, orientieren sie sich zurück zur Familie.“ Aber manches könne die Familie nicht schaffen: „Gerade Jungs müssen sich spüren“, sagt er. „Sie müssen ständig ihre Kräfte messen. Wenn das wegfällt, kann Frustration folgen.“

„Kinder brauchen Kinder“, sagt Simone Ossenkamp, Mutter von Kolja (5) und Pflegemama von Sophie (12) aus Witten. Zum Glück hat ihre Partnerin, die sie auch in Corona-Zeiten häufig sieht, ebenfalls zwei Kinder, so dass Kolja und Sophie auch noch andere Spielpartner haben.

Feste Strukturen schaffen

„Ansonsten bemühe ich mich sehr, feste Strukturen zu schaffen, weil die ja Orientierung und einen festen Rahmen geben“, sagt die 44-Jährige, die als Lehrerin an einer Förderschule tätig ist. „Ich versuche, dass wir uns jeden Tag an die gleichen Essenszeiten halten, dass wir wochentags immer zu einer ähnlichen Zeit aufstehen und dass Sophie am Vormittag die Schulsachen erledigt.“

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Auch Kolja bastelt oder malt in dieser Zeit dann etwas, was er freiwillig nicht gerne tut. „Für die Nachmittage denke ich mir immer etwas aus: mal Schatzsuche im Wald, mal Spiele im Garten, Fahrradtouren oder Spaziergänge.“ Sophie hat außerdem viel im Haushalt mitzuhelfen und unterstützt beim Kochen. Gerade Sophie, Schülerin an einer Förderschule, vermisst die Schule sehr. „Mir fehlt es, mit den anderen zu spielen“, sagt sie. Die Klasse sei wie eine große Familie: klein, übersichtlich, transparent, der Alltag sehr durchstrukturiert. „Als die Schließungen kamen, dachte ich, dass ich das zu Hause niemals schaffe“, erinnert sich Simone Ossenkamp. „Aber es klappt gut: Sophie fordert sehr viel Struktur, sie will genau wissen, was wir zu welcher Zeit machen, fragt auch oft. Aber dem komme ich nach. Jeden Morgen beim Frühstück besprechen wir die grobe Tagesstruktur.“

Auch Erwachsene brauchen Strukturen und geregelten Alltag

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Ihr fünfjähriger Sohn Kolja sei da noch anders: „Kolja steht vom Frühstückstisch auf, sieht ein Legomännchen und ist für die nächsten anderthalb Stunden abgetaucht.“ Wie er den neuen Alltag findet, weiß er nicht so genau, er ist hin- und hergerissen: „Ich finde es doof, dass ich wegen dem blöden, bescheuerten Corona nicht mehr in den Kindergarten kann. Aber dafür sehen wir Fridtjof oft“, den Sohn der Partnerin seiner Mama. Auch Mama Simone ist zwiegespalten: „Ich glaube, das wirkt sich positiv auf unser Leben aus“, sagt sie. „Wir sind viel entschleunigter und schätzen es viel mehr, in den Wald zu gehen. Auf der anderen Seite möchte ich wieder arbeiten. Ich brauche auch Strukturen und einen geregelten Alltag. Wenn die Kinder abends um zehn noch nicht im Bett sind oder Sophie zum tausendsten Mal am Tag ‚Mama‘ schreit, komme ich auch an meine Grenzen“, sagt sie lächelnd.

>>>Praktische Tipps: Wochenpläne und ein Corona-Kalender

In den sozialen Netzwerken gibt es viele Vorschläge für Tages- oder auch Wochenpläne. Manche sind tabellenförmig, teils sehr durchgetaktet: 8 Uhr Aufstehen, Anziehen, Zähneputzen, 9 bis 10 Uhr Morgenspaziergang, 10 bis 12 Schulzeit, 13 Uhr Mittagessen, dann ein Symbol für die jeweilige Aktivität des Nachmittags, bis hin zur Fernseh- und Zubettgehzeit.

Andere sind lockerer gestaltet und zeigen, was im Tag untergebracht werden soll. Oder sie sind als Uhr angelegt, an die Wäscheklammern mit der jeweiligen Aktivität gepinnt sind. Ein Vorschlag: einen Corona-Kalender zu basteln, der einem Adventskalender ähnelt. Jeden Abend gibt es, wenn der Tagesplan gut funktioniert hat, ein kleines Geschenk, eine Extra-Geschichte oder ein Bild.