Als wir die weiße Fahne hissten… Kapitulation und Kriegsende jähren sich bald zum 75. Mal – ein Essay, warum es noch lange nicht vorbei ist.

Am 8. Mai 2020 wird es genau 75 Jahre her sein, dass die Wehrmacht kapitulierte und für die Deutschen der 2. Weltkrieg endete. 75 Jahre sind eine sehr lange Zeit, aber wie lautet eine Weisheit, die ich wahrscheinlich im Kino aufgeschnappt habe: Vielleicht haben wir mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit hat noch nicht mit uns abgeschlossen.

Wann der Krieg in mein Leben trat, kann ich (Jahrgang 1967) ziemlich genau sagen. Als Kind fiel mir beim Herumstöbern im großmütterlichen Schrank ein kleines Faltblatt in die Hände, darauf Zeichnungen von fast idyllischen Soldatengräbern, es war eine Benachrichtigung über den Tod eines jungen Mannes. Seinen Namen hatte ich schon mal gehört, er war wohl ein Freund der Familie.

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Im Stechschritt durchs Klassenzimmer

Mehr über den Krieg erfuhr ich in Modellbau-Katalogen und in der Schule. Unser Latein-Lehrer hatte Russland überlebt. Manchmal durchmaß er in einer Art Stechschritt das Klassenzimmer, im Rhythmus seiner aufsetzenden Schuhsohlen beugte er das Verb: sum, es, est…

Britische Soldaten sammeln sich am 16. Februar 1945 im Klever Reichswald. Sie rücken Richtung Ruhrgebiet vor.
Britische Soldaten sammeln sich am 16. Februar 1945 im Klever Reichswald. Sie rücken Richtung Ruhrgebiet vor. © picture alliance / AP | dpa Picture-Alliance / Eddie Worth

Mit ihm hatte ich nie Ärger, mit anderen Vertretern seiner Generation schon. Es war 1982 im Linienbus nach Oberhausen, als der ältere Herr gegenüber meinte, mich zurechtweisen zu müssen, offenbar hatte die Spitze meiner Adidas Universal leicht das dunkelgrüne Sitzpolster berührt. „Das hätte es früher nicht gegeben!“ Ich wollte mir das nicht gefallen lassen, aber ich sagte nicht „Was wollen Sie eigentlich von mir?“ Ich sagte: „Na klar, Sie hätten es wohl lieber wieder so wie vor 40 Jahren.“

Wütende Opas im Linienbus

Wer 1982 älter als 60 war, hatte mit einiger Wahrscheinlichkeit in der Wehrmacht gedient. Ich stellte mir die wütenden Opas – es gab sie ja nicht nur im Linienbus – mit einer Waffe in der Hand vor. Vielleicht hatten sie jemanden erschossen. Vielleicht hatten sie jemanden erschossen, den sie nicht hätten erschießen müssen.

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Man kann sich rückblickend wahrlich nicht über eine Jugend beschweren, die in die BRD der 70er und 80er Jahre fiel. Aber neben der Aussicht, dass jederzeit eine Atombombe im Vorgarten landen könnte, belastete einen doch dieses Dunkelfeld der Demographie : Jeder ältere Herr hätte Nazi-Funktionär, Kriegsverbrecher oder Wachmann in Auschwitz gewesen sein können.

Ein Mann schiebt sein Fahrrad durch die noch rauchende Trümmer in Bochum.
Ein Mann schiebt sein Fahrrad durch die noch rauchende Trümmer in Bochum. © Repro des Presseamtes der Stadt Bochum

Später begann der Krieg zu mir über die Medien zu sprechen: Filme, Bücher, Spiegel-Titelgeschichten. Und natürlich TV-Dokumentationen, die mich bis heute begleiten. Wenn auf allen anderen Kanälen ein Kochduell läuft, schalte ich auf ZDF Info um. Dort kamen kürzlich – ohne dass es ein besonderer Gedenktag war – nicht weniger als 29 Sendungen hintereinander, die sich mit Nationalsozialismus und Krieg beschäftigten. Und ein Ende ist nicht in Sicht, das Thema scheint einfach zu attraktiv. Erst voriges Jahr produzierte das ZDF die Serie „Geheime Unterwelten der SS“, in der viel spekuliert wird, etwa, ob die Nazis bei der Atomforschung nicht doch deutlich weiter waren, als bekannt ist (auch die nachgestellten Szenen irritieren, kehrt hier doch ein schon vor Jahrzehnten parodiertes Standardelement des Nachkriegs-Kriegsfilms zurück: der strenge Offizier, der durch eine Lupe auf eine Landkarte schaut und dem dabei ein groteskes Riesenauge zu wachsen scheint).

Interessierte Kriegsenkel

Das ZDF war es auch, das vor sieben Jahren die TV-Serie „Unsere Väter, unsere Mütter“ ausstrahlte. In diesem Zusammenhang wurde das Phänomen der „Kriegsenkel“ beleuchtet, die sich verstärkt für das Schicksal ihrer Familie zwischen 1939 und 1945 interessierten. Manche von ihnen führen Fehlentwicklungen in ihrem Leben darauf zurück, dass ihre kurz vorm oder im Krieg geborenen Eltern als Reaktion auf die schreckliche Zeit bestimmte Verhaltensweisen entwickelt hätten, etwa ein übertriebenes Streben nach Sicherheit. Diese hätten dann auch die nächste Generation beeinflusst. Manche Kriegsenkel sind überzeugt, dass ihnen Traumata vererbt wurden, nicht nur im psychologischen Sinne, sondern bis in die DNS hinein.

Ungeklärte Kriegs-Schicksale

Mit einem 1943 geborenen Vater würde ich mich für die Kriegsenkel qualifizieren, aber ich denke, dass man über oben erwähnte Einflüsse auf Individuen geteilter Meinung sein kann (müsste es dann nicht auch schon Kriegsurenkel geben?). Kein Zweifel besteht hingegen daran, dass der Krieg unsere gemeinsame Geschichte seit 1945 bestimmt hat: Als die Wehrmacht im Osten einmarschierte, war das Fundament für die Berliner Mauer gelegt.

Menschen räumen 1945 Schutt vor dem Polizeipräsidium Essen weg. Aus dem Buch „Für jede Leiche gibt’s ‘nen Schnaps!“
Menschen räumen 1945 Schutt vor dem Polizeipräsidium Essen weg. Aus dem Buch „Für jede Leiche gibt’s ‘nen Schnaps!“ © Polizei Essen

Unzählige Kriegs-Schicksale warten noch darauf, geklärt zu werden. Es gibt Vereine, die Gefallene beider Seiten im Oderbruch oder in russischen Wäldern ausgraben, um sie zu identifizieren und ihnen ein anständiges Begräbnis zu ermöglichen. Andere Leute arbeiten sich durch Archive. 2019 montierte die Stadt Essen eine Gedenktafel für drei englische Flieger, die sich mit dem Fallschirm aus ihrer abgeschossenen Lancaster retteten und nach der Landung von Zivilisten gelyncht wurden. Zur Einweihung der Tafel reiste auch ein Engländer an, der fünf Jahre alt war, als sein Großonkel, einer der bis dato namenlosen Flieger, starb.

Der Countdown zum 8. Mai 2020 läuft bereits seit einiger Zeit. Die Bild-Zeitung berichtete im Dezember – 75 Jahre nach Beginn der Ardennen-Offensive – über ein Treffen ehemaliger deutscher und amerikanischer Soldaten. Damals hatten sie aufeinander geschossen, nun aßen sie in einem Zelt in Bastogne gemeinsam – natürlich – Sauerkraut. Hauptdarsteller der Geschichte auf deutscher Seite war ein 95-Jähriger, der als Kommandant eines Königstiger-Panzers an der verzweifelten Offensive teilgenommen hatte.

Die Schlagzeilen im Jahr 2035

Der Mann, der wie 17 Millionen Deutsche in der Wehrmacht gedient hatte, ging schon am Stock. Man dürfte ihn und die anderen überlebenden Veteranen nicht mehr im Linienbus treffen, aber sie sind noch da und werden noch lange da sein. Man kann es leicht ausrechnen: Wenn jemand gegen Ende des Kriegs 18 war und das biblische Alter von – sagen wir mal - 108 erreicht, dann wird diese Ära erst um 2035 zu Ende gehen. „Hitlers letzter Soldat starb friedlich im Altersheim“ – so oder ähnlich werden die Schlagzeilen lauten.

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Und das war es dann noch lange nicht mit der lebendigen Erinnerung an den Krieg. Im Jahre 2050 werden noch Menschen unter uns sein, die sich an die Bombennächte erinnern.

Wer nicht dabei war, kann sich wohl kaum vorstellen, was sich während der Luftangriffe in den Bunkern abgespielt hat. Meine Großmutter erwähnte das Thema gelegentlich, aber die Erzählungen - „…dann habe ich mir das Kind geschnappt und bin losgerannt“ - endeten immer an der Bunkertür. Dass sie nicht mehr erzählen konnte oder wollte, kann ich verstehen.

D e r Roman über den Bombenkrieg

Etwas anderes verstehe ich jedoch nicht: In einem Dreivierteljahrhundert hat es niemand geschafft, d e n Roman über den Bombenkrieg zu schreiben (der bedeutende Literaturwissenschaftler W. G. Sebald hatte der deutschen Literatur schon 1992 diesbezüglich Versagen vorgeworfen). Dabei bietet das Thema klassische Ansätze für Schriftsteller: menschliches Verhalten in extremen Situationen, Auswirkungen eines totalitären Systems auf den Einzelnen, Beschreibung und Verarbeitung eines Traumas. Aber wie gesagt: Noch leben Zeitzeugen…

Flugblatt, das Amerikaner und Briten im April 1945 im Ruhrgebiet verteilten.
Flugblatt, das Amerikaner und Briten im April 1945 im Ruhrgebiet verteilten. © Herdecker Blätter

Die Bombennächte sind lange vorbei, doch die Bomben sind noch – im wahrsten Sinne - unter uns. Kürzlich mussten Dortmunder und Düsseldorfer ganze Stadtviertel räumen, weil Blindgänger entschärft wurden. Ich erinnere mich daran, dass ich selbst einmal für die Zeitung über die Entschärfung einer britischen Fliegerbombe berichtet habe. Nachdem der Spezialist seinen gefährlichen Job erledigt hatte, fragte ich ihn, nur wenige Meter von der Bombe entfernt stehend, wie alt das Ding wohl gewesen sei. Er kramte nonchalant den wie neu glänzenden Zünder aus der Jackentasche und schaute auf die dort eingravierten Herstellerangaben. In dem Moment lief in meinem Kopf ein Film an: Der Zünder kam zurück in die Bombe, die Bombe zurück ins Flugzeug, das Flugzeug zurück auf die Insel, die Bombe zurück in die Munitionsfabrik, der Zünder zurück in die Hände einer englischen Arbeiterin, die vielleicht Joan hieß und aus Sheffield kam (vielleicht war ich in meinem Leben einfach zu oft im Kino).

Wie sah die Stadt damals aus?

Manchmal, wenn ich durch die Straßen der Innenstadt gehe, erwische ich mich dabei, wie ich schlichte Nachkriegs-Bauten zähle und mir die weggebombten Gründerzeit-Häuser mit ihren hübschen Verzierungen und Erkern vorstelle, die früher dort gestanden haben. Unweigerlich komme ich auch an dem einen oder anderen Bunker vorbei, unzählige davon existieren noch in ganz Deutschland. Nach dem Krieg wurden sie als Lagerräume, Pilzzuchtstationen oder Proberäume genutzt. Ich kenne sogar jemanden, der als Student in einem Bunker gewohnt hat.

Im Keller meines Hauses befindet sich eine Wand, in der eine ganze Reihe von Ziegelsteinen fehlt, durch dieses etwa Hula-Hoop-Reifen-große Loch blickt man direkt auf die Wand des Nachbarhauses. Jahrelang habe ich mich gefragt, was das soll, dann bemerkte ich dieselbe Konstruktion in einem anderen Keller, und der Groschen fiel: Wer es bei Luftalarm nicht mehr in den Bunker schaffte, verkroch sich im eigenen Untergeschoss. Und war der Ausgang später durch Trümmer versperrt, ließ sich dank der fehlenden Steine viel schneller ein rettender Durchbruch zum Haus nebenan schaffen. In 75 Jahren hat es niemand geschafft, die Lücke zuzumauern. Ich denke, sie wird für immer bleiben.

Bert Giesche ist Kolumnist dieser Zeitung. Das Essay teilt einige historische Motive mit seinem Buch „Der Große Deutsche Nachkriegsroman“, das er unter dem Pseudonym T.G. Schieber geschrieben hat.
Bert Giesche ist Kolumnist dieser Zeitung. Das Essay teilt einige historische Motive mit seinem Buch „Der Große Deutsche Nachkriegsroman“, das er unter dem Pseudonym T.G. Schieber geschrieben hat. © privat

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