Essen. Schwarmverhalten: Ein Phänomen, das nicht nur in der Tierwelt existiert. Wo die Grenzen liegen und was der größte menschliche Schwarm ist.

Gebannt wartet die Menschenmenge an der Fußgängerampel mitten in einer deutschen Großstadt. Weit und breit ist gerade kein Auto zu sehen. Schon eine gefühlte Ewigkeit dauert die Rotphase nun. Da geht der erste Passant einfach bei Rot über die Straße, ein weiterer folgt, noch einer, und dann passiert etwas Merkwürdiges: wie auf Kommando gehen plötzlich auch alle anderen gleichzeitig los.

Im Tierreich kann man sogar noch weitaus Spektakuläreres beobachten. Ein Starenschwarm zieht am Himmel vorbei, wie eine wabernde schwarze Wolke, plötzlich scheint der Schwarm in der Luft stehenzubleiben, zeigt eine Art Unschlüssigkeit, dann nimmt das gefiederte Geschwader wieder Bewegung auf, stößt wie ferngesteuert hinab, schließlich verteilen sich die Vögel krächzend auf den Ästen einer ausladenden Baumkrone. Wird ein Fischschwarm von einem Fressfeind bedrängt, kann sich die Gruppe sogar trennen, an zwei Seiten um den Angreifer herumschwärmen und sich hinter ihm wieder zu einem Verband zusammenschließen.

Zwischen Faszination und gespensterhaften Vergleichen


Was passiert da? Diese Frage hat Beobachter schon immer fasziniert und zu gespensterhaften Vergleichen angeregt, etwa bei ausschwärmenden Bienen: „Es ist ein großartiges Bild, so ein fortschwärmender Bienenschwarm, er schaut just so aus wie die Menschenseele, die den Körper verlassen muss“, schwärmte etwa Rudolf Steiner, der Begründer der Waldorfpädagogik, Anfang der 1920er Jahre.

Klingt esoterisch. Doch wenn eine Gruppe von Einzelwesen eine bestimmte Größe erreicht, kommt es zu merkwürdigen Erscheinungen, wie von Geisterhand gesteuert verschmelzen die Einzelnen zum Schwarm, der einen eigenen Willen zu haben scheint. Im Fall der Bienen haben Imker sogar ein Wort für die dabei entstehende „Bienenpersönlichkeit“ erfunden, für sie ist es „der Bien“. „Das Fisch“, „das Ameis“ oder „das „Mensch“ gibt es als Begriff dagegen (noch) nicht, doch alle diese Lebewesen können in der Gruppe einen „Superorganismus“ bilden.

Simple Regeln steuern das Schwarmverhalten


Aber wie viele Tiere machen einen Schwarm? „Bei Staren reichen dafür fünf bis sieben Vögel aus“, weiß der Ökologe und Fisch-Forscher David Bierbach von der Humboldt-Universität Berlin. „Denn auf mehr Tiere kann ein einzelner Vogel sowieso nicht achten.“ Die Obergrenze wiederum ist sehr groß: „Heringsschwärme im Meer etwa bestehen oft aus Millionen von einzelnen Fischen, die sich gemeinsam bewegen.“ Für den Beobachter ist das verblüffend. Wer steuert die Krähen am Himmel in Richtung Landeplatz, einen Heringsschwarm im Meer weg vom Fressfeind, die Ameisen auf einer Ameisenstraße in Richtung Speisekammer, einen Bienenschwarm, der über eine Wiese fliegt zu einem hohlen Baumstamm?

Die Antwort ist einfach und kompliziert zugleich: niemand, und doch alle zugleich. Die Wissenschaft spricht deswegen von Schwarmintelligenz, sie lässt sich im gesamten Tierreich beobachten, und folgt ähnlichen Gesetzen: „Das Schwarmverhalten beruht auf simplen Verhaltensregeln, genauer gesagt Abstandsregeln zum Nachbarn – wird eine bestimmte Entfernung überschritten, bewegen sich Tiere zum Nachbarn hin, wird sie unterschritten, bewegen sich Tiere vom Nachbarn weg“, so Bierbach.

Roboter-Fische helfen bei der Erforschung von Schwarmintelligenz

Zur Erforschung solcher Regeln nutzt der Wissenschaftler einen Roboter-Fisch, der in einen echten Schwarm eingeschleust wird. Nicht immer wird im Schwarm auf Sicht gefahren: Bei Insekten kommen spezielle Duftstoffe dazu, sogenannte Pheromone – sie helfen zum Beispiel Ameisen, den optimalen Weg zu einer Futterquelle zu finden: Da der kürzeste Weg im selben Zeitraum von mehr Tieren genutzt wird, sammeln sich dort die meisten Duftstoffe, was weitere Tiere anzieht. Die Logistikbranche hat davon gelernt, und setzt das Ameisenstraßen-Prinzip ein, um etwa den Warenumschlag an Flughäfen effizienter zu gestalten.

Schwarmverhalten lässt sich ohnehin sehr gut simulieren, so Thomas Röhr vom „Robotics Innovation Center“ in Bremen, das zum Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz gehört. Dort wird der Schwarm als ein „Mehragenten-System“ verstanden, das wertvolle Aufschlüsse liefern kann: „Etwa über das Fluchtverhalten von großen Gruppen in einem Stadion – hier sind die Personen die Agenten, für die man Regeln definiert, etwa Abstand halten zum Nächsten, Bewegung in eine bestimmte Richtung, und dann schaut man, was passiert.“
Oft ist die Überraschung groß: „Dann passiert etwas, das man vorher nicht beobachten konnte, wir sprechen von Emergenz“, so Röhr. Das gilt für das Labor mit Robotern und Drohnen genauso wie für die Natur: „Auch wenn man die Regeln kennt, kann man etwa das Verhalten eines Starenschwarms am Himmel nicht vorhersagen.“

Die Natur als Vorbild in der KI-Forschung

In der KI-Forschung werden sowohl landgetriebene Roboter wie auch fliegende Drohnen eingesetzt, Vorbild bleibt dabei aber immer die Natur. Denn sie hat mit der Schwarmintelligenz etwas erfunden, was die Forscher schlicht als einen „Lösungsmechanismus“ bezeichnen – eine Intelligenz, die nur aus unsichtbaren Regeln und Strukturen besteht.

Inzwischen hat man auch besonders anschauliche Experimente mit menschlichen Testpersonen durchgeführt, wie etwa in einem Versuch, der 2007 mit 300 Teilnehmern in der Kölner Messehalle stattfand. Sie bekamen zwei Regeln mit auf den Weg. Erstens: „bleibe immer in Bewegung“, zweitens: „halte immer eine Armlänge Abstand zu den anderen Schwärmern um dich herum.“ Daraufhin ließ sich tatsächlich Schwarmverhalten beobachten, vor allem als noch die Rolle eines „Räubers“ eingeführt wurde: Vor dem Angreifer teilte sich der Schwarm, hinter ihm schloss er sich wieder, genauso wie ein Fischschwarm, der von einen Raubfisch angegriffen wird.

Die Grenzen der Schwarmintelligenz


Ein weiteres Experiment brachte eine verblüffende Erkenntnis zum „Herdentrieb“: Wurden fünf Prozent der Teilnehmer vorab beauftragt, sich gemeinsam zu einer bestimmten Stelle des Raumes zu bewegen, folgte ihnen der gesamte Schwarm. Waren es weniger als fünf Prozent, die ein bestimmtes Ziel ansteuerten, folgte der Rest der Gruppe nicht.

Wie weit reicht die Schwarmintelligenz? Der deutsche Bestseller-Autor Frank Schätzing erfand für seinen Sci-Fi-Thriller „Der Schwarm“ ein ganz besonders cleveres Kollektiv von Meeres-Einzellern. Genervt von der Menschheit, die immer mehr Schadstoffe in die Ozeane leitet, beschließen die „Yrr“, wie sie von Wissenschaftlern getauft werden, das Leben auf dem Land zu attackieren, unter anderem mit Hilfe von gentechnisch veränderten Haien, Quallen und Würmern. Sogar ein Langzeitgedächtnis besitzt Schätzings fiktiver Schwarm: indem die Einzeller bestimmte Bereiche ihrer DNA-Erbinformation als Speichermedium verwenden, führen sie eine riesige Bibliothek mit sich herum.

Ein Fisch kann sich irren, ein Fischschwarm selten


Etwa zeitgleich dachte sich Schätzings US-Kollege Michael Crichton einen High-Tech-Schwarm aus. In seinem Thriller „Beute“ schließen sich winzige Nano-Roboter zu großen Schwärmen zusammen, um das Überleben ihrer Art zu sichern. Die gefräßigen, intelligenten Staubwolken werden zu einer Art künstlichen Heuschreckenplage, die auf der Suche nach Baumaterial keine Gnade kennt und alle nur denkbaren Tricks anwendet, um ihr Ziel zu erreichen.

Ganz so schlau und planvoll gehen reale Schwärme nicht vor, und trotzdem können sie beachtliches leisten. Der Schwarm ist nämlich in vielen Fällen schlauer als der Einzelne, was etwa bei der Erkennung von Gefahren von Vorteil ist. Während sich ein Fisch alleine oder ein Vogel alleine beim Erkennen eines Raubtiers irren mag, macht der Schwarm deutlich weniger Fehler: „Bei einem unserer Experimente trafen einzelne Fische zu 55 Prozent die richtige Entscheidung, ein Schwarm von 16 Fischen dagegen erreichte 80 Prozent, und das auch noch in kürzerer Zeit“, so der Fisch-Forscher David Bierbach von der Berliner Humboldt-Universität.

Die Weisheit der Massen

Hierfür hat sich im Wissenschaftsjargon auch die Bezeichnung „Weisheit der Massen“ eingebürgert, die man im übrigen auch beim Menschen beobachten kann. Diese Erfahrung machte bereits im Jahr 1906 der britische Statistiker und Naturforscher Francis Galton: als auf einer Nutztiermesse die Besucher im Rahmen eines Gewinnspiels das Gewicht eines Ochsen schätzen sollten, wertete Galton anschließend die einzelnen Schätzungen aus, knapp 800 an der Zahl.

Das verblüffende Ergebnis: der Mittelwert lag ziemlich genau am tatsächlichen Gewicht, die Abweichung betrug nur etwa ein Prozent. Die Schätzungen einzelner Experten dagegen, vom Züchter bis zum Metzgermeister, wichen deutlich stärker von der richtigen Lösung ab.

Der größte menschliche Schwarm der Welt: das Internet


Dank des Internets können online heutzutage riesige „Crowds“ (also Menschenmengen) zusammenwirken, und noch weitaus erstaunlichere Leistungen erbringen. Das prominenteste Beispiel ist wohl die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Der längst alle gedruckten Lexika überbordende Wissensschatz wird nicht nur unablässig von unzähligen Helfern weiter vermehrt, sondern auch ständig auf falsche Angaben überprüft und im Zweifelsfall umgehend korrigiert. Auch viele kommerzielle Plattformen wie Ebay oder Amazon zapfen mit Hilfe von „Crowdsourcing“ die Weisheit der Massen an, indem sie etwa Bewertungen und Kommentare von Nutzern verwenden, um das Angebot und die Benutzbarkeit zu verbessern.

Und was ist mit der Dummheit der Massen – gibt es vielleicht auch Schwarmdummheit? „Zehn Deutsche sind natürlich dümmer als fünf Deutsche“, lästerte etwa nach der Wiedervereinigung der Dramatiker Heiner Müller. An der mehrheitlich von Fußgängern missachteten roten Ampel oder angesichts von bestürzenden Landtagswahlergebnissen mag man ihm da manchmal zustimmen. Doch sollte man die Fähigkeit des Schwarms, Fehler rasch wieder zu korrigieren, auch nicht unterschätzen.