Wanne-Eickel. Das Heimatmuseum Unser Fritz in Herne beschwört Gefühle jenseits von Revierkitsch. Zur Nostalgie gesellt sich eine kritische Sichtweise.

Wer hinein will ins Herner Heimatmuseum „Unser Fritz“, kommt nicht vorbei an Gisela, an der dicken Frau aus Pappmaché, die mit Kittel und Lockenwicklern auf ein Kissen gelehnt aus dem Fenster guckt – Sinnbild für die gute, alte Zeit im Ruhrgebiet. Aber die war eben nur vermeintlich gut. „Dass damals so viele Leute, gerade auch Männer, im Fenster lagen, hatte ja einen Grund: Das waren Bergbau-Invaliden“, erklärt Kurator Ralf Piorr, der hier, im Herzen von Wanne-Eickel eine Ausstellung zusammengestellt hat, die an Vielseitigkeit im Revier ihresgleichen sucht. Stadtgeschichte von 1890 bis 1980 wird hier erzählt. Dazu gehört natürlich auch „Flöz Wilhelm“, der einem echten Kohleflöz nachempfunden wurde, intern wegen seiner Enge der „Geburtskanal“ genannt wird. Im Hintergrund flimmert eine Doku über das Grubenunglück auf Zeche Mont Cenis 1921, bei dem 85 Menschen ums Leben kamen. Der Trauerzug war viele hundert Meter lang.

„Lieber ‘ne Kanne Dortmunder als ‘ne Wanne Eickel.“

Die „Gisela“ bewacht den Eingang des Heimatmuseums.
Die „Gisela“ bewacht den Eingang des Heimatmuseums. © Marit Langschwager

Es sind Kontraste wie diese, die Ralf Piorr (53) reizen. „Wir versuchen, dieses Ruhrgebiet mit den schönen und den hässlichen Seiten, mit der Kreativität aber auch mit der Destruktivität darzustellen“, sagt er.

Eigentlich beginnt der Besuch für die meisten Einheimischen aber mit einem Entzückensseufzer. Denn im Hof steht eine echte Trinkhalle aus dem Jahr 1904, mit einem Pagodendach und einer Fortuna-Figur im Jugendstil darauf. Sie stand bis 1921 im Gelsenkirchener Stadtpark – und kam dann nach Wanne-Eickel. In alten Zeiten gab es nicht die Bierwerbung (Eickel, Schlegel, Dortmunder Union, Ritter und noch viel mehr), denn ursprünglich waren es ja Selters-Hallen, die den Industrie-Arbeitern eine alkoholfreie Pause bescheren sollten. Dennoch will man mehr wissen, auch über die zwei historischen Flaschen hinterm Budenfenster. Wie schmeckte wohl so ein Eickel Pils? Piorr antwortet mit einer Variante des ältesten heimischen Wortwitzes, der trotzdem wahr ist: „Lieber ‘ne Kanne Dortmunder als ‘ne Wanne Eickel.“ Dann mal Prost!

Die Kneipe, zweitwichtigster Lebenraum vieler Kumpel

Den nachgebauten „Flöz Wilhelm“ bezeichnet man im Museum wegen seiner Enge oft als „Geburtskanal“.
Den nachgebauten „Flöz Wilhelm“ bezeichnet man im Museum wegen seiner Enge oft als „Geburtskanal“. © Marit Langschwager

Das Inventar einer alten Kneipe, zweitwichtigster Lebenraum vieler Kumpel, steht hier, original aus der Herner „Sonne“. Ein Schulzimmer aus der Kaiserzeit. Bohrhämmer aus den Flottmann-Werken. Ein Wohnzimmer im Stil des Gelsenkirchener Barocks.

Und ein Raum, dessen Betreten unangenehm sein kann, hier geht es um die Nazi-Zeit. Da liegen die Original-Straßenschilder mit so unrühmlichen Namenspaten wie Hermann Göring, Horst Wessel und natürlich Adolf Hitler, abgewrackt in einem Bollerwagen. Hier kann man von einer 40er-Jahre-Küche aus durch Gucklöcher den Blick werfen auf Fotos der Reichpogromnacht. Auch der Widerstand wird gezeigt.

„Ich sehe den Begriff ,Heimat’ sehr kritisch.“

Wohnzimmer im Gelsenkirchener Barock. Ralf Piorr: „Wer so einen Schrank bekam, ließ ihn zwei Stunden auf der Straße stehen, damit die Nachbarn ihn sehen konnten.“
Wohnzimmer im Gelsenkirchener Barock. Ralf Piorr: „Wer so einen Schrank bekam, ließ ihn zwei Stunden auf der Straße stehen, damit die Nachbarn ihn sehen konnten.“ © Marit Langschwager

Und dann ist man noch nicht bei der Jukebox aus den 50ern (größter Hit: „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“, 1962), nicht beim Kabarettisten Fritz Endrikat, nicht bei den 68ern, nicht beim 15.9.1980, dem jüngsten Stück: „Theo gegen den Rest der Welt“ hatte Premiere in Essens Lichtburg, auch wenn der Film großteils in Herne spielt. Die Videokassette stammt aus Piorrs Sammlung.

Am Ende kommt eine überraschende Aussage für den Kurator eines Heimatmuseums: „Ich sehe den Begriff ,Heimat’ sehr kritisch. Ich betreibe keine Heimat- und Bergbaunostalgie. Für uns ist Heimat Identifikation mit dem Lokalen. Dazu gehören Fragen wie: Warum sieht die Stadt so aus? Warum ist der Stadtteil durchzogen von der Autobahn?“ Wer sich dafür interessiert, wird beim Besuch zufrieden sein wie ein Fisch im Rhein-Herne-Kanal.

>>>Das liebste Ausstellungsstück: die Goldin-Dose

Es ist eine schmierige Geschichte, die sich ein Drehbuchautor nicht besser hätte ausdenken können: „Der Öl-König von Wanne-Eickel“. Es kommen drin vor: ein Kohlenhändler, der zum Benzin-Boss aufstieg; ein Bordell im Bergischen; der größte Steuerbetrug in der Geschichte der Republik; ein Fußballclub mit Ambitionen.

Läuft wie geschmiert: Kurator Ralf Piorr kennt die Verbindung zwischen der Goldin-Dose und den Scheinen allzu gut.
Läuft wie geschmiert: Kurator Ralf Piorr kennt die Verbindung zwischen der Goldin-Dose und den Scheinen allzu gut. © Marit Langschwager

Erhard Goldbach wechselte in den 50er-Jahren vom Kohlen- zum Benzinhandel und baute die Kette „Goldin“ mit 260 freien Tankstellen auf: „Immer zwei Pfennig billiger als die anderen.“ Nebenher betrieb er besagtes Etablissement, Club Harmonie bei Rösrath. Er war so erfolgreich, dass es ihm gelang, dem heimischen Fußballclub einen Zusatz im Namen zu bescheren: SC Westfalia Goldin Herne.

Das Problem: Große Mengen seines Benzins wurden schwarz verkauft, Goldbach hinterzog 360 Millionen D-Mark Steuern. Kurator Ralf Piorr: „Niemand hat den Staat um mehr Geld betrogen, niemand saß für ein Wirtschaftsverbrechen länger im Knast.“ Zwölf Jahre.

Piorr schwärmt: „Die Goldin-Öldose ist mein Lieblingsstück, sie erinnert an den Traum vom billigsten Benzin aller Zeiten. Und an den Tag, an dem Goldin mit den Oktan-Zahlen gepfuscht hat und in Herne 30 bis 40 alte Autos liegengeblieben sind, weil sie Goldbach-Benzin getankt hatten.“