. Ein Gespräch mit Zeitforscher Karlheinz A. Geißler, der sagt: Das Smartphone löst die Uhr als Taktgeber ab. Wir wollten wissen, warum das so ist.

Lange Zeit hat Karlheinz A. Geißler gefordert, dass die Menschen den Gehorsam der Uhr gegenüber infrage stellen. Nun hat der Zeitforscher ein neues Buch geschrieben: „Die Uhr kann gehen – Das Ende der Gehorsamkeitskultur“. Maren Schürmann sprach mit dem 74-Jährigen, wie zufrieden er mit der neuen Zeit-Entwicklung ist. Was anstelle der bisher geforderten Pünktlichkeit tritt. Und warum Menschen glauben, sie hätten keine Zeit.

Sie haben so lange gegen die Uhr gekämpft, wenn ich jetzt in Ihr neues Buch schaue, bekomme ich den Eindruck, dass Sie etwas wehmütig sind, dass die Zeit für die Uhren abläuft.

Sie gehen ins Rentenalter. Sie werden zwar noch gebraucht, aber nicht mehr in diesem Maße wie früher.

Sind Sie wehmütig, war der Eindruck richtig?

Nein, ich bin nicht wehmütig, ich sehe das ambivalent. Auf der einen Seite fühle ich mich teilweise befreit, auf der anderen Seite ist es ein Zwang, umzulernen. Denn die Zeiten werden nicht langsamer oder weniger stressig, sondern nur anders.

Können Sie das erklären: Die Uhr hat ihre Schuldigkeit getan, die Uhr kann gehen?

Zeitforscher Karlheinz Geißler trägt selbst gar keine Uhr.
Zeitforscher Karlheinz Geißler trägt selbst gar keine Uhr. © Fremdbild

Die Uhrzeit ist das zeitliche Organisationsprinzip der Industriegesellschaft gewesen. Sie brauchte die Uhr dringend, um sich zu koordinieren. Die Leute haben in riesigen Fabrikhallen an Maschinen gearbeitet, die pünktlich starteten. Heute wird sehr viel individueller gearbeitet, die einzelnen Menschen entscheiden viel mehr über die Zeit. In der digitalen Gesellschaft arbeiten wir am Computer, der keine Zeit mehr anzeigt. . .

Sie sagen, der Computer zeigt die Zeit nicht mehr an. Aber das tut er doch, genauso wie das Smartphone, das Tablet . . .

Ja, aber sie hat sich in eine Ecke verflüchtigt auf dem Display. Sie ist unter anderem präsent. Früher war die Uhr dominant. In jedem Raum, in jeder U-Bahn-Station – überall war eine Uhr dominant zu sehen. Das ist heute nicht mehr der Fall. Die Uhr ist ein Orientierungselement neben anderen und nicht mehr das zentrale Element.

Aber wir schauen schon noch häufig auf die Uhr...

Dass wir so viel auf die Uhr schauen, ist natürlich auch der Erziehung geschuldet. Die Schule ist eine reine Uhrzeitorganisation, in der die Kinder die Vorstellung entwickeln, es käme im Leben darauf an, Zeit zu sparen, zu gewinnen, zu managen und sie in den Griff zu bekommen. Die Uhr gibt den Takt vor. Aber das brauchen wir heute nicht mehr in dem Maße. Wir brauchen Flexibilität, das heißt, nicht mehr die Pünktlichen machen die Karriere, sondern die Flexiblen. Es kommt einem heute immer mehr dazwischen. Und wenn einem immer mehr dazwischenkommt, ist die Uhr kein guter Ratgeber mehr.

Wer ist der gute Ratgeber heute?

http://Wie_wir_die_Zeit_empfinden-_Jeder_tickt_ein_bisschen_anders{esc#217057711}[news]Das Smartphone löst die Uhr ab als Organisationsprinzip. Da können Sie flexibler organisieren. Unpünktlichkeit war früher ein Makel der Menschen. Einem Menschen wurde Charakterlosigkeit vorgeworfen, wenn er unpünktlich war. Das ist heute anders. Heute wird erwartet, dass Sie anrufen, dass Sie unpünktlich sind. Und nicht, dass Sie pünktlich sind. Und zum Anrufen benötigen Sie das Mobiltelefon. Es gibt Ihnen in kürzester Zeit die Möglichkeit, umzuorganisieren. Und das nennen wir Flexibilität. Die Menschen akzeptieren das auch, wenn Sie umorganisieren. Früher galten Sie als unzuverlässig. Das ist heute nicht mehr der Fall.

Sie haben anfangs gesagt, dass Sie die Entwicklung ambivalent sehen...

Sie verlieren ein Ordnungsprinzip, mit dem Sie verlässlich Ordnung machen konnten. Dafür müssen Sie schneller, spontaner und flexibler handeln. Es ist mehr Freiheit und gleichzeitig mehr Zwang: Sie müssen flexibel sein und schnell sein. Der Druck erhöht sich. Früher haben wir gesagt: Wir machen einen Termin – verlässlich.

Pünktlichkeit gilt aber immer noch als Tugend, oder?

Wir wurden auf Pünktlichkeit erzogen. Aber die Pünktlichkeit nimmt ab. Meine Kinder sagen mir keine Termine mehr, wann sie vorbeikommen. Sie sagen: „Ich komme am Nachmittag vorbei.“ Dann sage ich: „Wann?“ „Ja ich rufe dich noch vorher an.“ Früher habe ich mich darüber aufgeregt. Inzwischen merke ich, dass sie damit besser leben als ich mit festen Terminen.

Auf der anderen Seite gibt es durch das Smartphone auch die Erwartung, dass man immer erreichbar ist.

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So ist es. Man hat keine gemeinsame Ordnung mehr. Man kann nicht mehr verbindlich vereinbaren, um vier Uhr bist du dort oder machst du das. Es kommt etwas dazwischen und etwas anderes ist wichtig geworden. Da unterscheide ich zwischen Pünktlichkeit und „am Punkt sein“. Pünktlich sein heißt, zum vereinbarten Zeitpunkt am vereinbarten Ort zu sein. Und „am Punkt sein“ heißt, immer zur rechten Zeit am rechten Ort sein.

Ich erinnere mich an meine Oma, die hat immer viel gearbeitet, aber am Sonntag musste die Arbeit ruhen. So etwas wird ja heute belächelt.

Alle kollektiv organisierten Zeitelemente stehen unter Druck, der Sonntag, der Feierabend, Ladenschlusszeiten, Öffnungszeiten – von Banken zum Beispiel. Dadurch dass es überall Geldautomaten gibt, kommen Sie Tag und Nacht an Ihr Geld. Früher ging das nicht, da hatten Sie ab 17 Uhr keine Chance mehr, Geld von der Bank zu holen. Alles ist jederzeit zu bekommen, in einer Nonstop-Gesellschaft brauchen Sie keine Uhr mehr.

Was wird das für Folgen haben?

Das hat die Folge, dass sich der Zeitstress eher erhöht als reduziert. Auf der anderen Seite können sie frei über Zeit entscheiden. Aber auch das ist eine stressige Angelegenheit, das heißt, die Freiheit, über Zeit zu entscheiden, nimmt zu, aber Sie müssen auch über Zeit entscheiden. Und das bedeutet Stress. Sie können nicht nur, Sie müssen auch.

Wenn Sie die Macht hätten, die Welt zu verändern. Wie würde sie dann aussehen, in Bezug auf die Zeit?

Dann würde ich sie wie einen Käse organisieren, wie einen Emmentaler, mit festen Zeitstrukturen, wo die Zeit organisiert ist. Aber auch mit vielen Zeitlöchern, wo die Leute ihre Zeiten selber organisieren können.

Das klingt jetzt nicht nach einer abgedrehten Utopie, das müsste man doch erreichen können.

Das kann auch jeder einzelne so machen. Also nicht immer und überall, manche sind in Herrschaftsverhältnissen, wo das nicht möglich ist. Aber im Rentenalter kann man das auf jeden Fall machen.

Aber auch bei Senioren hört man häufig: „Ich habe keine Zeit!“

Wer keine Zeit hat, ist anerkannt in dieser Gesellschaft. Und wichtiger Teil dieser Gesellschaft. Und so werden wir verführt, permanent Zeit zu organisieren, obwohl wir das gar nicht brauchen. Wenn ich zeitzufrieden bin, dann kann das nur an der Qualität der Zeit liegen und nicht an der Quantität, an der Menge der Zeit. Also ich will es mal so sagen: Es kommt im Leben nicht darauf an, wie viel Zeit man hat, sondern wie viel man von der Zeit hat.

>>> PR-Gag: Norwegische Insel will Uhrzeit abschaffen

Idyllische Zeiten auf der Insel Sommarøy.
Idyllische Zeiten auf der Insel Sommarøy. © dpa Picture-Alliance / Hinrich Bäsemann

Das klang sehr verlockend: Eine norwegische Insel, auf der im Sommer den ganzen Tag die Sonne scheint, will die erste zeitfreie Zone werden. Die Meldung, die weltweit durch die Medien ging, war nur ein gelungener PR-Gag. Menschen haben sich das Ganze ausgedacht, um die Insel Sommarøy attraktiv für Touristen zu machen. Aber einen wahren Kern gab es trotzdem. Einer der Initiatoren sagte: „Wir haben darüber diskutiert, wie uns die Uhr die Zeit nimmt, anstatt sie uns zu schenken.“

„Die Uhr ist nicht die Zeit, sondern ihr Gefängnis“, sagt Zeitforscher Karlheinz A. Geißler, der selbst keine Uhr trägt. „Uhrzeitmenschen sind Personen, die Gespräche für gelungen halten, wenn sie schnell vorbei sind.“