Essen . Nachtruhe ist überlebenswichtig. Was aber passiert, wenn wir zu wenig davon bekommen? Kein Problem – der Schlaf holt sich uns ganz von selbst...
Üblicherweise passiert es abends oder nachts, und wir liegen dabei in einem Bett. Unsere Augen fallen zu, unsere Muskeln entspannen sich. Der Puls, die Atemfrequenz und der Blutdruck sinken ab. Später steigen sie wieder an. Und unser Gehirn erhöht gleichzeitig seine Aktivität. Dann träumen wir. Schlaf ist überlebenswichtig. Wir alle benötigen ihn. Um psychisch und physisch erholt zu sein, frisch und munter. Auch dem Gedächtnis hilft er auf die Sprünge, unsere Festplatte wird neu formatiert, alle unwichtigen neuronalen Verbindungen werden nach Möglichkeit aussortiert.
Trotzdem haben wir manchmal Probleme mit dem Schlaf. Und sagen dann Sätze wie: „Gestern habe ich die ganze Nacht wach gelegen!“ oder „Ich habe diese Woche viel zu wenig Schlaf abbekommen. Ich muss mich mal wieder richtig ausschlafen.“ Kann man Schlaf nachholen? „Klares Jein“, antwortet darauf Ulrich Götze, „das hat mit dem Schlaf an sich zu tun, damit, was Schlaf ausmacht. Schlaf ist gekennzeichnet durch Plastizität und Automatizität. Das heißt: Er ist wie ein perfekter Butler, der sich an alle möglichen Kapriolen in unserem Lebenswandel anpasst und sie ausgleicht – völlig automatisch und ohne unser aktives Zutun. Wenn man berufsbedingt die ganze Woche über zu wenig geschlafen hat und dann von Samstag auf Sonntag eine Nacht durchschläft, holt der Körper den Tief- und einen Teil des Traumschlafs automatisch nach. Der Schlaf holt sich uns. Nicht wir uns den Schlaf.“
Schnarchen, unruhige Beinen, Narkolepsie
Seit dem Jahr 2009 ist der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit Zusatzspezialisierung Schlafmedizin an der Ruhrlandklinik/Universitätsklinik Essen tätig. Das dortige Schlafmedizinische Zentrum ist in einen stationären Bereich mit 13 Betten und eine Ambulanz untergliedert, wo Erst- und Verlaufsuntersuchungen zur Diagnosestellung und zur Therapie aller Krankheitsbilder der Schlafmedizin stattfinden. Patienten, die hier Hilfe suchen, leiden etwa unter Schnarchen und Atempausen im Schlaf, unruhigen Beinen, übermäßiger Einschlafneigung bis hin zur Narkolepsie oder, ganz im Gegenteil, unter quälender Schlaflosigkeit.
Der Schlafbedarf ist ganz individuell
Der Schlaf ist ein echter Tausendsassa. Der vieles von alleine regelt.
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„Schlaf ist nicht einfach und eindimensional. Schlaf ist immer in ein komplexes Ganzes eingebettet, was uns aber meist nicht bewusst ist“, so der 50-jährige Essener. Dies könne man beispielsweise daran sehen, dass sich trotz allem wissenschaftlichen Fortschritt hartnäckig die Vorstellung hielte, jeder Mensch brauche unbedingt acht Stunden Schlaf.
In der Realität variiert die optimale Schlafdauer von Person zu Person: „75 Prozent der Bevölkerung fühlen sich mit sechs bis acht Stunden wohl, 12,5 Prozent geht es gut, wenn sie mehr als acht Stunden schlafen, und die anderen 12,5 Prozent kommen mit weniger als sechs Stunden aus, das heißt, mit fünf, vier oder sogar nur drei Stunden.“
Vor diesem Hintergrund bekommt Rainer Werner Fassbinders Satz „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“ plötzlich eine ganz neue Bedeutung: „Fassbinder war einer von den Menschen, die nur sehr wenig geschlafen haben. Aber deshalb ist er nicht so früh gestorben. Andere schlafen bis ins hohe Alter nur drei Stunden – und es schadet ihnen nicht.“
Ältere Menschen schlafen nur etwa 20 Minuten weniger
Interessant: Frauen schlafen im Mittel etwa 15 Minuten länger als Männer und haben bis ins hohe Alter einen höheren Tiefschlafanteil. Und ältere Menschen brauchen gar nicht so viel weniger Schlaf, wie allgemein immer behauptet wird: „Es sind nur etwa 20 Minuten weniger. Aber der Schlaf älterer Menschen verteilt sich anders, weil er nachts häufiger unterbrochen ist, aber dafür auch tagsüber noch geschlafen wird“.
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Unser „perfekter Butler“ kann sogar hilfreich bei Problemen sein: „Man kann sie tatsächlich zwar nicht ,wegschlafen’, aber der „Müll“ wird in der Nacht weggeräumt und dadurch stellt sich die Situation am nächsten Morgen womöglich klarer und ein bisschen anders als vor dem Einschlafen dar.“
Zur Komplexität von Schlaf gehört auch, dass es verschiedene Schlaf- und damit verbundene Tagesrhythmen gibt: „40 Prozent der Bevölkerung haben einen normal durchschnittlichen Tagesrhythmus, 40 Prozent sind moderate „Lerchen“ oder „Eulen“ und 20 Prozent haben einen ausgeprägten „Lerchen-“ oder „Eulenrhythmus.“
Auch das Schmerzempfinden ändert sich
Wer seine persönlichen Schlafbedürfnisse ignoriert, bekommt die Quittung: „Man fühlt sich müde, schlapp, kaputt, ist physisch und psychisch weniger leistungsfähig. Die Aufmerksamkeit, Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit nehmen ab. Man wird ungeduldiger, manchmal auch launisch und knatschig. Und: Auch das Schmerzempfinden ändert sich, es wird viel sensibler und empfindlicher.“
Kann man auch zu viel schlafen? „Nein, nur innerhalb von Krankheitszuständen. Zu viel gibt es innerhalb des normalen Schlafes eigentlich nicht, weil der Schlaf von Automatizität gekennzeichnet ist. Er kommt, wenn er kommen will, und genauso geht er auch wieder.“
Schlafen kann man immer und überall
Der Alleskönner Schlaf ist aber auch Missverständnissen ausgesetzt. Die so oft beschworene „Schlafhygiene“, das perfekte Schlafszenario mit dunklen und kühlen Räumen, bestimmten Matratzen, ohne Handystrahlung oder Fernseher und mit der letzten Mahlzeit mindestens drei Stunden vor dem Zubettgehen, so Götze, sei kompletter Humbug: „Schlafen kann man immer und überall, vorausgesetzt, man weiß um die Eigenheiten des Schlafes und man lässt ihn entsprechend walten.“ Was man hingegen nie tun sollte: Versuchen ihn herbeizuzwingen und Kontrolle über ihn zu gewinnen. „Wenn ich häufiger nicht gut einschlafe, dann mache ich mir Sorgen und bekomme Angst. Je näher die Nacht rückt, desto gestresster werde ich. Das wirkt dann wie eine rote Verkehrsampel: Der Gedanke, „Ich MUSS jetzt schlafen, weil ich morgen . . . !“ führt langfristig dazu, dass ich noch schlechter ein- und durchschlafen kann und der Teufelskreis sich schließt.“
Schäfchenzählen hilft nur kurzfristig
Kuriose Orte für ein Nickerchen
Das Verkehrteste in dieser Situation: „Sich ins Bett zu legen und auf den Schlaf zu warten.“ Stattdessen raus aus dem Bett und etwas anderes machen und erst wieder rein, wenn man wirklich müde ist. Auch ein verbreiteter Irrtum: dass es hilft, dem mit Entspannungsübungen oder „Schäfchenzählen“ zu begegnen. Das, so der Experte, sei genauso sinnlos, wie der Griff zu Beruhigungsmitteln oder Schlaftabletten: „Der Effekt hält nicht lange an, sondern er geht vorbei. Und dann sind die Anspannung und Angst wieder da, die Hoffnung wird enttäuscht und der Frust noch größer“.
Positiv hingegen: ein „Power-Nap“, früher Nickerchen genannt, während des Tages: „Aber maximal eine Viertelstunde, weil wir die ersten zehn Minuten im Leichtschlaf verbringen. Danach sind wir wach, erholt und ausgeruht. Schlafen wir länger, erreichen wir den Tiefschlaf – und fühlen uns hinterher deshalb beim Aufwachen wie zerstört. Das ist wie ein künstlicher Jetlag.“
Schlaf einfach nachholen
Dass Rekorde wie der des Briten Tony Wright, der 2007 mit elf Tagen und zwei Stunden einen neuen Weltrekord im Schlafentzug aufstellte, mit einem gewissen Schaudern wahrgenommen werden, hat für den Schlafmediziner einen Grund: „Dieser Versuch zeigt sehr deutlich, welche Reserven unser Körper und damit unser Schlaf eigentlich hat. Und davor ängstigt sich unsere Gesellschaft.“
Selbst wer so lange nicht schläft wie Wright, kann den Schlaf in drei bis vier Tagen nachholen. Vorausgesetzt, er vertraut „seinem“ Schlaf und berücksichtigt dessen Eigenheiten und Bedürfnisse. Die nicht zwangsläufig im Bett, bei Nacht oder mit leerem Magen verwirklicht werden müssen.
>>>Achtung, Schlafdiebe!
Die Eltern nehmen es ja gern in Kauf, aber: Wer gerade ein Kind bekommen hat, verliert in den ersten beiden Jahren sechs Monate an Schlaf.
Der Weltrekord im Schnarchen liegt bei 92 Dezibel, wie ein Presslufthammer oder eine Disco.
Wer zu viel arbeitet, schläft schlechter: Unter Menschen mit über 60 Stunden Arbeitszeit, hat ein Viertel Schlafstörungen.