Ruhrgebiet. . Der RS1 soll Modell für einen neuen Standard von Radwegen sein. Doch von den 101 geplanten Kilometern durchs Revier sind erst zwölf fertig.
Stadtgrenzen im Ruhrgebiet haben ihren ganz eigenen Charme. Oft sind sie nicht zu erkennen, weil die meisten Revierkommunen an ihren Rändern ineinanderfließen wie Spiegeleier in der Bratpfanne. Die Prominenz im Land verirrt sich nur selten an diesen kleinen Grenzverkehr. Kommt es dort dann doch einmal zum Schaulaufen, muss die Sache groß sein. Oder die Not.
Wie groß also ist die Not beim RS1, dem vielbewunderten Projekt, Deutschlands erste Radautobahn 100 Kilometer quer durchs Ruhrgebiet zu bauen? Nimmt man die Promi-Dichte der Amtsträger beim symbolischen ersten Spatenstich für ein gerade einmal 1100 Meter langes Teilstück des Radschnellwegs Ruhr im zugigen Schatten des Wattenscheider Lohrheide-Stadions zum Maßstab, ist die Lage zumindest ernst. Aus Düsseldorf waren an diesem kalten März-Tag NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU) angereist und Mehrdad Mostofizadeh, der Landtagsfraktionsvize der Grünen. Auch Bochums Oberbürgermeister Thomas Eiskirch (SPD) scheute den Fototermin im unwirtlichen Niemandsland zwischen Wattenscheid und Gelsenkirchen nicht. Mit ins Bild rückten zudem so mächtige Behördenvertreter wie Emschergenossenschafts-Chef Uli Paetzel und Straßen.NRW-Direktorin Elfriede Sauerwein-Braksiek.
Von der „Radautobahn Ruhr“ ist bislang wenig zu sehen
Tatsächlich war das Warmlaufen am Wattenscheider Bach wohlkalkuliert. Beim RS1 soll und darf nichts schiefgehen. Das war die unmissverständliche Botschaft des Tages. Denn mit dem Radschnellweg verknüpft sich deutlich mehr als nur eine weitere Attraktion für Freizeitradler der Region, an denen das Ruhrgebiet ja durchaus nicht arm ist. Nein, beim RS1 liegt die Latte höher. Der RS1 soll nichts weniger werden als eine Referenzstrecke für einen neuen Standard von Radwegen in Deutschland. Er zahlt ein aufs Mobilitätsversprechen der schwarz-gelben Landesregierung. Gleichzeitig müssen die Akteure unbedingt verhindern, dass wieder ein einst vollmundig angekündigtes Infrastrukturprojekt fußlahm wird, bevor es überhaupt richtig losgeht.
Doch genau das droht. Denn beim RS1 ist der Fortschritt eine Schnecke. Im Endausbau soll die Strecke Radfahrer zwischen Duisburg und Hamm zwar komfortabel und kreuzungsfrei 101 Kilometer durchs Ruhrgebiet führen und insbesondere Berufspendler von der Straße und aus überfüllten S-Bahnen aufs Rad locken. Doch derzeit ist von der „Radautobahn Ruhr“ lediglich nur Stückwerk zu sehen. Zwölf, vielleicht dreizehn Kilometer lang ist die bislang einzige fertige RS1-Teilstrecke zwischen dem Universitätscampus im Norden der Essener City und der Hochschule Ruhr West in Mülheim. Erst am vergangenen Mittwoch wurde dort der dafür nötige Brückenschlag über die Ruhr freigegeben. Das war’s erstmal mit dem Weiterbau.
In Bochum und Essens Westen stocken die Planungen
Das Problem des RS1 ist sein hoher Anspruch. Der Ausbaustandard ist in Deutschland einzigartig. Im Vergleich zu üblichen Freizeit-Radwegen setzt der Radschnellweg neue Maßstäbe an Qualität und Befahrbarkeit. Dazu gehören eine Mindestbreite von insgesamt rund sechs Metern, eine durchgängige Trennung von Rad- und parallelem Fußweg, wenig Steigungen, eine innerörtliche Fahrbahnbeleuchtung sowie regelmäßige Reinigungen und Winterdienst.
Auch interessant
Die Trasse wird planungsrechtlich wie eine Landesstraße behandelt. Das hat den Vorteil, dass Landesgelder fließen und die Finanzierung des auf 180 Millionen Euro taxierten Projekts gesichert ist. Die Hochstufung des RS1 auf Straßenbau-Niveau führt aber gleichzeitig zu einem Rattenschwanz an Auflagen und Genehmigungsprozessen. Hinzu kommen baurechtliche Probleme, Naturschutzauflagen, ungeklärte Grundstücksfragen. Beim RS1 komme das „wunderbare deutsche Planungsrecht in vollster Blüte zur Darbietung“, frotzelte selbst Verkehrsminister Wüst.
Beste Aussicht auf zügige Fertigstellung hat das nun begonnene Teilstück zwischen Bochum und Gelsenkirchen. Doch auch das wird vorerst ein 1100-Meter-Torso bleiben. Unter anderem eine denkmalgeschützte Brücke bremst im Anschluss den Weiterbau des insgesamt 2,8 Kilometer langen Abschnitts „Gelsenkirchen“ aus. Straßen.NRW rechnet dort mit einem Baustart frühestens in drei Jahren. Westlich und östlich endet der komplette Abschnitt nach derzeitigem Planungsstand ohnehin im Nichts. Denn in Bochum und im Essener Westen stocken die Planungen.
Die Idee kommt vom Regionalverband Ruhr
Grund dafür ist die teils komplizierte Gemengelage in den Städten. Essen etwa verknüpft mit dem Weiterbau des RS1 Richtung Osten die Aufwertung eines ganzen Stadtviertels – zum Missfallen der Fahrradgemeinde im Revier. „Der RS1 ist eine tolle Sache“, sagt Jörg Althoff, Vorsitzender des Fahrradclubs ADFC in Essen. Für eine solche Ost-West-Achse quer durchs Ruhrgebiet als Pendlerstrecke gebe es „einen klaren Bedarf“. In Zeiten von Pedelecs und E-Bikes könne der RS1 zu einer echten Alternative im Berufsverkehr werden und mithelfen, den Straßenverkehr zu reduzieren. „Doch die Städte sollten alles unterlassen, was den Ausbau noch weiter verzögert“, mahnt Althoff.
Die Idee zum RS1 hat selbst schon einige Jahre auf dem Buckel. 2014 überraschte der Regionalverband Ruhr (RVR) die Öffentlichkeit mit einer Machbarkeitsstudie über eine 100 Kilometer lange Schnellverbindung auf der für die Region wichtigen zentralen Ost-West-Achse. Sie sollte für Radler störungsfrei befahrbar sein und Berufspendler von der Straße und aus überfüllten Bahnen aufs Rad locken. Nicht überall im Revier fand man das Konzept damals überzeugend.
Zuständig für Planung und Bau ist Straßen.NRW
Doch mit der Eröffnung eines sechs Kilometer langen Referenzabschnittes zwischen Mülheim und Essen nahm der RS1 im Jahr 2015 zunächst zügig Fahrt auf. Im Oktober 2017 wurde ein weiteres Teilstück vom Mülheimer Hauptbahnhof als Hochpromenade auf einem Viadukt bis zur Ruhr eröffnet.
Um den Bauprozess zu beschleunigen, erhob die damalige rot-grüne Landesregierung den RS1 vor über zwei Jahren in den Rang einer Landstraße. Seitdem ist der für den überregionalen Straßen- und Fernstraßenbau zuständige Landesbetrieb Straßen.NRW für Planung und Bau verantwortlich. In dessen Regionalniederlassung Ruhr in Bochum beschäftigt sich ein eigenes Projektteam von Planern und Ingenieuren mit der „Radautobahn“ durchs Ruhrgebiet.
Komplettes Baurecht bis 2025
Projektleiter Sebastian Artmann wirbt um Geduld beim RS1. Nicht alles aus der Machbarkeitsstudie habe der planungsrechtlichen Realität standhalten können, beschwichtigt er. Artmann rechnet damit, dass 2025 für alle RS1-Abschnitte Baurecht vorliegt. Was heißt das für die komplette Fertigstellung? Da wird der Planungsingenieur vorsichtig: „Gehen Sie von der zweiten Hälfte der 2020er-Jahre aus.“