Bochum. . Pädagogen und Forscher warnen: Jungen und Mädchen können heute kaum noch selbstbestimmt spielen, vielen fehlt die Fantasie. Ein Experte weiß Rat.
So richtig wissen Jona (5), Ida (5) und Charlotte (3) nichts mit den Handpuppen anzufangen. Unsicher bewegen sie Kaspar, Wolf und Prinzessin ein bisschen hin und her und schauen sich fragend nach ihrer Erzieherin um. „Die Kinder spielen nicht viel mit den Handpuppen, sie identifizieren sich mit solchen Sachen nicht mehr“, erklärt Heike Blotenberg, Leiterin der Awo-Kita „Am Schamberge“ in Bochum-Linden. „Es sind heute eher Medienhelden, die ihr Spiel prägen.“ Die eigene Fantasie sei immer weniger der Motor für das Spiel.
Jona zum Beispiel beschäftigt sich vornehmlich mit seinen Star-Wars-Figuren. „Ich spiele am liebsten mit meiner Baby-Born-Puppe“, erzählt Ida. „Mit der gehe ich schwimmen und die kann Geräusche. Sie kann blubbern und Musik und hat ein tolles Kleid und kann auch Pippi machen.“ Auf die Frage, ob ihre Puppe denn auch einen Namen hat, schüttelt sie vorsichtig den Kopf. Und Charlotte weiß gar nicht so recht, mit was sie eigentlich am liebsten spielt. „Ich mag das nicht, wenn ich alleine spiele, nur mit Mama und Papa“, sagt sie leise.
„Es gibt viel weniger Platz für Fantasie“
77 Kinder im Alter von vier Monaten bis sechs Jahren besuchen wie Ida, Jona und Charlotte die Kita, verteilt auf vier Gruppen. Große, helle Räume, die Bauteppiche sind bedeckt mit Lego-Figuren und Bauklötzen, in einer Ecke eine große Spielküche, in einer anderen Maltisch und Lesehöhle. Draußen ein großer Kletterturm und in einem abgetrennten Bereich sogar Hühner und Bienen: eine Vorzeige-Kindertageseinrichtung mithin in einem Stadtteil mit vielen Einfamilienhäusern und hohem Akademikeranteil.
Heike Blotenberg beobachtet das Spielverhalten der Kinder in ihrer Kita genau. Die 58-Jährige ist seit 20 Jahren Erzieherin und selbst Mutter von vier inzwischen erwachsenen Kindern. Natürlich seien auch schon früher Serienfiguren – wie zum Beispiel die Turtles – in Rollenspiele integriert worden, aber: „Heute gibt das Spiel die Regeln vor“, sagt Blotenberg. „Das Medienverhalten führt häufig zu Konkurrenzkämpfen und Streit.“ Die Serien werden möglichst originalgetreu nachgespielt, kaum abgewandelt. Wer sich nicht auskennt, wird ausgegrenzt. Die Spielregeln seien häufig viel gesetzter, viel enger. „Es gibt viel weniger Platz für Fantasie“, beobachtet die Pädagogin.
Das selbstausgedachte Rollenspiel geht verloren
Dabei bedeutet Spielen, so die Definition im Duden: „sich zum Vergnügen, Zeitvertreib und allein aus Freude an der Sache selbst auf irgendeine Weise betätigen, mit etwas beschäftigen.“ Oft hätten die Kinder jedoch Schwierigkeiten, allein durch ihre Fantasie ins Spiel zu finden, so Blotenberg. Die meisten Kinder bräuchten viel mehr Impulse und Anleitung, zum Beispiel auch bei den regelmäßigen Ausflügen in den nahen Wald. „Kinder, die zu Hause viel Pling-Pling haben, können mit Bauklötzen oder Steinchen und Stöckchen nichts mehr anfangen. Die sind dann schnell gelangweilt.“ Und vor allem nach dem Wochenende sei das freie Spiel angeregt durch mediale Vorbilder wie Superhelden „energiegeladener“ und lauter.
„Kinder können heute kaum noch aus eigenem Antrieb spielen“, bestätigt Jens Junge, Spielewissenschaftler und Direktor des Berliner Instituts für Ludolgie. Der 55-Jährige sagt: „Unter anderem Medien geben ihnen heute so viel Input, dass Kinder auch in der Freispielzeit beschäftigt werden möchten. So geht das selbstinitiierte Rollenspiel mehr und mehr verloren.“ Der Teppich, auf dem der Teddy hüpft, verwandelt sich nicht mehr in der eigenen Fantasie in einen Wald. Und weniger Kinder fordern auf: Spielen wir Vater-Mutter-Kind?
Je mehr erlaubt ist, desto ideenreicher wird das Spiel
Dabei sieht Jens Junge den verstärkten Medienkonsum der Kleinen nur als eine Komponente, die das Spielverhalten prägt: „Die Überflutung hat nicht nur mit Medien, sondern auch bei Spielzeug an sich ganz klar zugenommen. Die Spielzeugindustrie wächst stetig in der Menge“, sagt Jens Junge. Eltern und Verwandte schenken immer mehr. Die Bedeutung eines Spiels könne bei einem vollgestopften Kinderzimmer nicht mehr begriffen werden. Klarer Indikator einer Überflutung sei, „wenn es den Kindern nicht mehr einfällt, einem Spielgerät einen Namen zu verpassen, sie sich also nicht damit identifizieren können“.
Warum das Spielen für Kinder so wichtig ist
Wenn bei Kindern die Spielkompetenzen abnehmen, hat das auch Auswirkungen auf andere Bereiche, wie Spielewissenschaftler Jens Junge aufzeigt:
Raum-Lage-Wahrnehmung: Freies Spielen und vor allem Bewegung hilft, Gegenstände oder sich selbst im Raum wahrzunehmen. Das wiederum bildet die Grundlage für rechnerisches Denken oder um bestimmte Buchstaben wie b-p oder d-q voneinander zu unterscheiden.
Sprachkompetenz: Wenn Kinder weniger zusammen spielen, man ihnen nicht vorliest oder sich aufgrund von Zeitmangel nicht mit ihnen unterhält, führt das zu abnehmender Sprachkompetenz.
Soziale Defizite: Gemeinschaftserlebnisse sind Interaktionen, die Kinder zu sozialen Wesen machen, die zum Beispiel Konflikte lösen können.
Übergewicht: Kinder bewegen sich heute im Spiel weniger, auch weil sie weniger draußen sind. Studien zeigen, dass viele Erstklässler übergewichtig sind.
Dazu lasse Spielzeug heute immer weniger Raum für Kreativität, Neugierde und Innovation. Zum einen durch die so genannten unterhaltenden Funktionen, also batteriebetriebene Blink- und Geräuscheffekte, zum anderen durch Spielsachen, die einem bestimmten Plan folgen. Immer mehr konstruiere die Spielzeugindustrie ihre Produkte auch für den Geschmack der Eltern, die es kaufen und denen es somit gefallen muss. „Früher gab es Fantasie, heute Bauanleitungen“, sagt Jens Junge. „Eltern lieben Modellbau, Kinder lieben auch das Zerstören.“ Mit zum Beispiel komplizierten Legobausätzen werde das freie Konstruktionsspiel schlicht unterbunden, den Kindern „die Spiellust ausgetrieben.“
Natürlich gibt es allerorts auch Kinder, die sich gut selbst beschäftigen können und fantasiereiche Spiele entwickeln. Je mehr erlaubt ist, auch an „zweckentfremdetem“ Spiel, desto ideenreicher wird das Ganze, beobachtet Heike Blotenberg in ihrer Kita. Jens Junge: „Der Platz und die Entfaltung muss gegeben sein.“ Er empfiehlt maximal sieben, noch besser fünf Spielsachen fürs Kinderzimmer, die von Zeit zu Zeit ausgetauscht werden können. Und dann werden Handpuppen wie Kaspar, Wolf und Prinzessin auch vielleicht wieder lebendig.