Essen/Düsseldorf. . „Mehr Bewegung, weniger Stau“: Auch mit diesem Versprechen gewann Schwarz-Gelb die NRW-Landtagswahl. Heute sieht die Realität jedoch anders aus.

Unten bröckelt der Beton, oben stauen sich die Laster. Stoßstange an Stoßstange stehen sie hier. Kilometerlang. Es sind die Autobahnbrücken, die das NRW-Staudrama weithin sichtbar machen. Besonders am Rhein ist die Lage schlimm. Die in den 1960er Jahren als Ausweis deutscher Ingenieurskunst errichtete A1-Brücke bei Leverkusen hat es dabei zu trauriger Berühmtheit gebracht. Sie gilt als Inbegriff der in weiten Teilen desolaten Infrastruktur der größten Volkswirtschaft Europas.

Seit Jahren dürfen schwere Lkw dieses Nadelöhr des europäischen Fernstraßennetzes gar nicht mehr und Autos nur noch im Schneckentempo passieren. Der Zustand ist zementiert bis mindesten 2020. Danach soll zumindest eine Hälfte des geplanten Neubaus stehen.

Schäden an Mauerwerk und Stahlkonstruktion

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Kaum besser sieht es an der fast baugleichen A40-Brücke in Duisburg-Neuenkamp aus. Mehr als 100.000 Fahrzeuge überqueren den Rhein hier täglich, ausgelegt war die Brücke einmal für maximal 30.000. Die Schäden an Mauerwerk und Stahlkonstruktion sind so schlimm, dass auch hier nichts mehr zu retten ist. Kurios: Den Ersatzbau plant die einst für den Aufbau Ost gegründete Fernstraßenbaugesellschaft Deges. Der Staatsbetrieb ist in den neuen Bundesländern arbeitslos.

Auch wegen der endlosen Baustellen ist NRW Stau-Bundesland Nummer eins. Der alltägliche Stillstand auf den Straßen gilt als großer Bremsklotz für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Das macht die Situation zum Politikum, über das Regierungen stürzen können. Beobachter gehen davon aus, dass neben den Sorgen um die innere Sicherheit und der Überlastung der Schulen vor allem das alltägliche Verkehrschaos 2017 zur Abwahl der rot-grünen Landesregierung geführt hat.

Mobilitätsversprechen von Schwarz-Gelb

„Mehr Bewegung. Weniger Stau.“, stand auf vielen Armin-Laschet-Plakaten, weil die Wahlkampfstrategen des heutigen Ministerpräsidenten genau wussten: Der Stillstand auf vielen Straßen regt die Menschen auf. In den Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP wurde dann auch eine Art Mobilitätsversprechen geschrieben: „Zuverlässig, unkompliziert und möglichst ohne Stau“ sollen sich die Menschen durchs Land bewegen können, mit Autos, in Bussen und Bahnen.

Als aber zu Jahresbeginn 2019 die Stau-Statistik des ADAC für NRW bekannt wurde, sah die SPD die Chance, Schwarz-Gelb vorzuführen, nach dem Motto: Erst versprochen, dann gebrochen. Denn laut ADAC hat der Stau im vergangenen Jahr sogar zugenommen, um satte 6,4 Prozent. Die Statistik des Landesbetriebes Straßen.NRW hingegen liest sich aus Sicht der Regierung viel freundlicher: Die Staus sollen um 4,5 Prozent zurückgegangen sein. Hinter diesen widersprüchlichen Ergebnissen stecken allerdings weitgehend unterschiedliche Zählweisen.

SPD: „Verkehrspolitische Taschenspielertricks“

Größte Staus laut ADAC am Gründonnerstag und Ostermontag

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    Wer aber hat nun Schuld am Stau? Diese Frage beschäftigt NRW schon seit Jahrzehnten. Doch selten wurde so heftig darüber debattiert wie zur Zeit. SPD und AfD machten den Streit um die Stau-Statistik unlängst zum Anlass einer „Aktuellen Stunde“ im Landtag. Mit diesem Instrument kann die Opposition eine Regierung zur Diskussion über heikle Themen zwingen. Die SPD schimpfte dann auch über „verkehrspolitische Taschenspielertricks“ SPD-Fraktionsvize Jochen Ott meinte, NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst (CDU) versuche „das Stau-Chaos schönzureden“.

    Die Regierung konterte, sie habe eine Fülle von Maßnahmen auf den Weg gebracht, um den Verkehrsfluss zu verbessern. Neue Planer und Ingenieure wurden eingestellt, Geld des Bundes für den Straßenbau lückenlos abgerufen, Baustellen besser organisiert. „Die Lage auf den Straßen ist nicht zufriedenstellend“, räumte Hendrik Wüst im Landtag dennoch ein. „Die Pendler sind ungeduldig, und ich bin es auch. Jeder Stau ist einer zu viel“. (Weiterlesen: Auf diesen NRW-Autobahnen droht 2019 der meiste Stau)

    Stau ist auch Symptom einer guten Konjunktur

    Die Selbstzerknirschung des Ministers hat einen Grund. Ein Ende der Staus ist nämlich so bald nicht zu haben. Verkehrsexperten wie der Bochumer Stau-Forscher Justin Geistefeldt glauben vielmehr, dass sich die Lage sogar noch verschlimmert. Absehbar sei nicht damit zu rechnen, dass es zu weniger Staus komme, sagt Geistefeldt. Im Gegenteil: Insgesamt werde der Verkehr – besonders der Schwerlastverkehr – eher zu- als abnehmen. Das sei auch eine Frage der Konjunktur. Geistefeldt: „Staus sind ja auch die Symptome einer florierenden Volkswirtschaft.“

    Die Fehler verortet Geistefeldt vor allem in der Vergangenheit. „Viele Bauprojekte hätte man schon vor 20 Jahren beginnen müssen“, so der Bochumer. Damals aber habe es an Geld gemangelt, an Planungsreserven und manchmal am politischen Willen. Immerhin: Jetzt sei das Geld da „und auch der politische Wille.“

    Beton gegen Bildung ausgespielt

    ADAC-Verkehrsexperte Roman Suthold pflichtet Geistefeldt bei. Jahrzehntelang sei die Infrastruktur auf Verschleiß gefahren worden, immer wieder habe die Politik Beton etwa gegen Bildung ausgespielt. „Damals hatten wir ein Erkenntnis-, heute ein Umsetzungsproblem“, sagt Suthold. Jetzt aber die Baumaßnahmen zeitlich zu strecken, um Autofahrer zu entlasten, das halten beide Experten für absurd. Die Modernisierung des Straßennetzes dulde keinen Aufschub, sagt Justin Geistefeldt: „Da müssen wir durch.“ Und das Versprechen der Landesregierung? „Es ist kurzfristig nicht einzuhalten“, glaubt ADAC-Mann Suthold. Der zuständige Minister weiß es längst. „Wir werden kräftig bauen, und das erhöht das Staurisiko“, sagte Hendrik Wüst. (Weiterlesen: Noch mehr Stau: 23 neue Großbaustellen im Ruhrgebiet geplant)