Gelsenkirchen. . Im Alten- und Pflegeheim St. Josef hat rund die Hälfte der Bewohner eine Demenzerkrankung. Sie benötigen eine individuelle Betreuung.
„Meine Mutter lebt in ihrer eigenen Welt. Dort ist sie ein glücklicher Mensch“, sagt Karin Westphal mit Überzeugung in der Stimme. Vor zehn Jahren zeichnete sich bei ihrer Mutter Margarete eine Demenzerkrankung ab. Nach fünf nervenaufreibenden Jahren suchte Karin Westphal ein neues Zuhause für die heute 91-Jährige: das Alten- und Pflegeheim St. Josef in Gelsenkirchen-Erle. Mit Erfolg, mittlerweile hat sich die Seniorin dort eingelebt. Karin Westphal selbst hat in dieser Zeit gelernt, die Veränderungen der eigenen Mutter zu akzeptieren.
Am Anfang war die Vergesslichkeit. Dann folgte die Orientierungslosigkeit. Und irgendwann erkannte Margarete Rozalski ihren eigenen Ehemann nicht mehr. Diagnose: Demenz. „Mein Vater konnte das nicht verstehen. Er war völlig überfordert mit seiner Frau“, erinnert sich Karin Westphal.
Die Betroffenen können nicht allein bleiben
Doch die Familie versuchte alles, um Mutter und Ehefrau so lange es geht, zu Hause zu pflegen. Spurlos ist das nicht an den Angehörigen vorbeigegangen „Ein Ohr lauschte immer auf das Telefon, auch nachts. Ich habe einfach nur noch funktioniert“, sagt die 64-Jährige. Allein lassen könne man jemanden mit Demenz nämlich nicht.
Nach fünf Jahren ging es nicht mehr. Die Krankheit war zu weit fortgeschritten. „Die Betroffenen in ein Heim zu geben, ist für viele der Zug an der Reißleine“, erklärt Meinolf Potthast, Leiter des Sozialen Dienstes, „das ist zwar ein schwerer Schritt. Aber der Umzug entlastet auch.“ Man gebe in dem Moment ein Stück Verantwortung ab.
Gemeinsam lachen
Karin Westphal besucht ihre Mutter nicht mehr jeden Tag. Doch wenn sie im Heim ist, spielen die beiden oft etwas. Beim Brettspiel-Klassiker „Mensch ärgere dich nicht“ hat die 91-Jährige die Nase meist vorn. Nicht nur der Kampf um die Felder macht Spaß, sie amüsieren sich auch über alltägliche Situationen. Auf die Frage nach ihrem Alter etwa gibt es stets eine neue Antwort. Heute ist die Seniorin 59, morgen 64 und übermorgen vielleicht 84. Schlimm ist das nicht.
„Ich erlebe meine Mutter ganz anders. Früher war sie depressiv, hatte oft Schmerzen. Das Schmerzgedächtnis lässt nun nach. Sie ist richtig fit und lacht gern“, sagt die Tochter. Deswegen nennt sie die Demenz auch lieber „die Vergessens-Krankheit“.
Keine Diskussion führen
Manchmal geht Margarete Rozalski mit ihrem Rollator auf der Cranger Straße einkaufen – ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen. Vieles findet nur in ihrer eigenen Realität statt. Karin Westphal weiß zwar, dass diese Geschichten nicht stimmen, doch sie spielt mit. „Das ist wichtig. Wir korrigieren die Menschen mit Demenz nicht und diskutieren auch nicht mit ihnen. Alles, was sie in ihrer Welt erleben, ist gültig und richtig“, betont Meinolf Potthast.
Kegeln mag Margarete Rozalski übrigens überhaupt nicht. Sie habe es noch nie ausprobiert. Überredet Potthast die Seniorin dann doch mal, mit auf die Bahn zu gehen, räumt sie alles ab. „Meine Mutter ist die Kegelkönigin. Sie weiß es nur nicht mehr“, sagt ihre Tochter mit einem Zwinkern.
Therapie-Puppe als stiller Begleiter
Ob auf der Kegelbahn, beim Gedächtnistraining im Gemeinschaftsraum oder beim Sonnenbaden auf der Terrasse – ein stiller Weggefährte ist immer mit dabei. Im Körbchen des Rollators sitzt Philipp. Die Therapie-Puppe mit den dunkelbraunen Haaren und dem sympathischen Lächeln begleitet die Seniorin überall hin. „Er ist ein guter Zuhörer“, sagt Einrichtungsleiterin Michaela Mell, „eine andere Bewohnerin hat eine Stoffkatze.“ Bekommen hat sie die Puppe in einem Moment der Traurigkeit. „Sie hat lange gebraucht, um hier wirklich anzukommen. Menschen mit Demenz können neue Umgebungen oder Veränderungen nur schwer akzeptieren“, weiß Westphal. Sie brauchen Gewohnheit.
Philipp wird sogar frisiert und mit Hingabe passend zum Wetter draußen angezogen. Manchmal überrascht Westphal ihre Mutter sogar mit neuen Accessoires für den Stoffkameraden. Heute trägt Philipp einen gestreiften Pullover und um seinen Hals baumeln bunte Perlenketten, die im Sonnenlicht glitzern.
Die Emotionen werden stärker
Als kindisch empfindet Westphal das Verhalten nicht. „Ich habe meine Mutter so akzeptiert wie sie ist. Am Anfang war das allerdings nicht leicht“, beschreibt sie. Oft habe sie Dinge zehnmal hintereinander erklärt. Immer wieder die selben Fragen beantwortet. Das mache einen schon wütend, gesteht Westphal. Zeigen sollte der Angehörige dem Betroffenen das allerdings nicht. „Das abstrakte Denken und die Erinnerungen verschwinden – der emotionale Kanal hingegen erkrankt nicht, er ist vielmehr sehr ausgeprägt“, erklärt Potthast.
Menschen mit Demenz können die Gefühle ihres Gegenübers sofort erkennen und spiegeln diese wider. Eine angespannte Situation schaukle sich schnell hoch. Nicht jeder mit Demenz ist friedlich. „Es gibt auch die krawalligeren“, weiß Michaela Mell. Demenz hat viele verschiedene Formen. Wichtig sei deshalb im Vorfeld von Fachärzten klären zu lassen, ob es sich wirklich um eine Demenzerkrankung handelt oder um eine Depression. Die Krankheiten ähneln sich. Letztere ist heilbar. Der Fortschritt der Demenz lässt sich verlangsamen, aber nicht aufhalten. Mell: „Eines steht jedoch im Fokus: die Würde des Betroffenen.“
>>> Erinnerungen mit 4711 wecken
Seit einigen Wochen sind die Senioren in St. Josef im Fitness-Wahn. Wenn Meinolf Potthast die Hanteln und Gewichte auspackt, stehen sie schon erwartungsvoll vor dem Trainingsraum. „Fit für 100“ heißt das neue Angebot, an dem auch Menschen mit einer Demenz im Anfangsstadium teilnehmen können. Neben den Muckis wird in Gelsenkirchen-Erle außerdem das Gedächtnis trainiert.
1,25 Kilogramm. Für den Leiter des Sozialen Dienstes ist das Gewicht ein Klacks, für die Senioren ist es harte Arbeit. Die Beschwerung kommt an die Knöchel. „Wir machen uns die Schwerkraft zunutze“, erklärt Potthast. Training für Arm-, Bein- und Rückenmuskulatur steht auf dem Programm. Gefördert werden die motorischen Fähigkeiten. Damit haben besonders Menschen mit Demenz Probleme. Die Angebote richten sich an alle Senioren. Es gibt aber auch welche, die besonders auf Menschen mit Demenz zugeschnitten sind – immerhin rund die Hälfte der 93 Bewohner.
Gedächtnis und Körper fit halten
Betreuungsassistentin Anke Nienstedt hält das Gedächtnis der Betroffenen fit. Sie hat ein Quiz entwickelt, bei dem die Senioren Städte, Namen und Berufe einem gewissen Buchstaben zuordnen müssen. Eine Stadt mit G? „Gelsenkirchen“, schallt es aus der Runde. Klar, Lokalkolorit darf in Erle nicht fehlen.
Heimat – die spielt auch bei der Biografiearbeit eine Rolle. Jeder Lebenslauf wird betrachtet. „Ob Arzttochter oder Bergmann. Jedes Milieu erfordert einen anderen Umgang. Die Vergangenheit spielt eine große Rolle, da die Menschen sich daran erinnern können“, so Nienstedt. Erinnerungen weckt sie auch mit Düften. Tosca-Seife und ein kleines Fläschen 4711 hat sie immer dabei.