Essen. . Die schwierige Wahl des richtigen Namens. Wie Eltern sich entscheiden – und welche Vorurteile mit Sebastian oder Justin verbunden sind.

„Schiss- was?“ „Nein, nicht Schiss, Dschiehs-lähn, am Anfang weich, so wie in Dscha-niehn. Dchiehs-lähn kommt auch aus dem Französischen.“ „Und wie schreibt man das?“ „G-h-i-s-l-a-i-n-e“ buchstabiert sie. Ein Gespräch wie dieses führt Ghislaine Hempel nicht zum ersten Mal. Und verflucht dabei ihre Eltern. Hätten die ihr nicht einen normalen Vornamen geben können? Einen, den jeder kennt, und den jeder aussprechen kann? So ‘was wie Claudia, Gudrun oder Gisela? Klar, für Ghislaine gibt es einen Grund – die Freundin ihrer Mutter aus Quimper in Frankreich, die sie damals als Austauschschülerin kennen gelernt hat. Und die dann zur Patentante wurde. „Stimmt, der Name ist schon ziemlich verstrahlt“, sagt sie laut, „aber du kannst Laney zu mir sagen, das ist einfacher.“

Wenn Menschen Eltern werden, machen sie sich über den Namen ihres Kindes viele Gedanken. Es soll ein guter Name sein, einer, der passt, der sich schön anhört, etwas Besonderes ist. Kein Name, den alle haben und der den Träger damit verwechselbar macht. Wer will schon der fünfte Noah im Kindergarten sein? Oder die dritte Luna in der Grundschulklasse? Dass sich Eltern diese Gedanken machen, geschieht mit gutem Grund. Denn nicht alles, was blumig und exotisch klingt, macht im späteren Leben auch wirklich glücklich.

Quellen im Alten Testament

Die Germanen waren nicht einsilbig. Sie bevorzugten, was Namen anging, die Zweisilbigkeit. Ger-hart für den Kämpfer mit dem starken Speer, Heid-run für die Frau mit dem geheimnisvollen Wesen. Ab dem 7. Jahrhundert war das Alte Testament ein gutes Namensnachschlagewerk für Mamas und Papas in spe. Die Folge waren zahlreiche Daniels, Samuels und Elisabeths. Fünf Jahrhunderte später zog das Neue Testament nach. Ganz oben in den Namens-Charts dieser Zeit: Johannes, Magdalena, Immanuel. Auch Heilige (Benedikt, Florian) waren beliebte Namenspatrone. In der Renaissance (15./16. Jahrhundert) gab man sich mit Henricus oder Martinus gebildet, die Reformation brachte ein Comeback der Alttestamentarier: Jonas, David oder Rebekka.

Vornamen unterliegen Moden. Da liest man etwa auf den Zahnputzbechern in der Kita immer wieder die gleichen Namen.
Vornamen unterliegen Moden. Da liest man etwa auf den Zahnputzbechern in der Kita immer wieder die gleichen Namen. © picture alliance / dpa

International wurde es dann im 17./18. Jahrhundert, kleine Charlottes und kleine Alfreds verrieten Anleihen aus dem französischen und englischen Sprachraum. Besonders moralstrenge Eltern bevorzugten Namen mit ermahnendem Charakter wie Fürchtegott. Während der Doppelname mit Bindestrich (Klaus-Dieter, Eva-Maria) eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts ist, wurde im 20. Jahrhundert die Namenslandschaft immer vielfältiger. Heute konkurrieren romanische Marcos, anglophone Jennifers und skandinavische Britts mit althochdeutschen Falks, ostfriesischen Haukes und bayerischen Marias. Vorbilder aus Film und Fernsehen, It-Girls wie Paris (Hilton) machen das Ganze komplett unüberschaubar. Ist im Internet-Zeitalter wirklich alles möglich?

"Eltern sind heute viel selbstbewusster als früher"

Manchmal, wenn sie sich nicht sicher ist, schlägt Gabriele Rodriguez nach. Im „Internationalen Handbuch der Vornamen“, das erstmals 1987 erschienen ist, und seitdem zweimal überarbeitet wurde. Die letzte Version stammt von 2008 und umfasst rund 25.000 Vornamen für Jungen und Mädchen. Allzu häufig muss die Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Leipzig, die dort seit 1994 in der Beratungsstelle für Vor- und Familiennamen tätig ist, das aber nicht tun. Erstens, weil sie pro Jahr circa 3000 Anfragen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu Vornamen erhält, und zweitens, weil sich die Gesetzeslage ständig ändert. Da hinkt das acht Jahre alte Standardwerk immer mehr hinterher.

„Eltern sind heute viel selbstbewusster als früher“, weiß die 55-Jährige, „wenn sie einen bestimmten Vornamen unbedingt wollen, dann ziehen sie vor Gericht.“ So erscheint in der letztgültigen Version des maßgeblichen Nachschlagewerks etwa eine Eintragung, die man zuvor nur aus Tolkiens „Der Herr der Ringe“-Trilogie kannte: der männliche Vorname Legolas. Seitdem haben sich auch andere beliebte Bewohner von Mittelerde wie Arwen (weiblich) oder Aragorn (männlich) etabliert.

Die Eindeutigkeit des Geschlechts ist nicht mehr so wichtig 

„In der Hauptsache schicken Standesämter die Eltern zu uns, wir haben zwar die freie Vornamenwahl, aber es gibt doch gewisse Einschränkungen.“ Die allerdings zunehmend aufweichen: „Heute überprüfen wir, ob es den Namen schon gibt, in irgendeiner Sprache auf dieser Welt. Die Eindeutigkeit des Geschlechts war früher wichtig. Um das sicherzustellen, wurde ein Zweitname empfohlen. Inzwischen gibt es Urteile, auf der Basis von entsprechenden Gutachten, die das für nicht mehr erforderlich halten.“

So wurde der indische Name Kiran vom Bundesverfassungsgericht sowohl für Jungen als auch für Mädchen akzeptiert, und das Oberlandesgericht Hamm befand, dass Luca für beiderlei Geschlechter eine akzeptable Variante darstelle. Die männliche Form kommt aus dem romanischen Sprachraum, die weibliche aus dem englischen.

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Von Fall zu Fall entscheiden die Standesämter. Die inzwischen Jungs, die Junior mit Erstnamen heißen, ebenso akzeptieren wie kleine Olafssons oder Robinsons. „Auch die isländische Endung -dottir für Mädchen ist im Kommen.“

Namensgebung unterliegt Trends. Das weiß Rodriguez nur zu gut: „Derzeit erleben Michael oder Andreas, die in den 1980er-Jahren besonders beliebt waren, eine Renaissance. Seit den 1990ern ziehen auch altdeutsche Namen aus der Kaiserzeit wie Richard, Leopold oder Friederike mächtig an.“ Zu jedem Namen, der Gültigkeit besitzen soll, gilt es, eine Geschichte zu erzählen. So hört sich beispielsweise der Name San Diego (Sohn von Verona Poth) anfangs exotisch an: „Aber San ist ein türkischer Vorname, Diego einer aus dem Spanischen.“

Promi- und Monats-Namen sind beliebt

Neuerdings ist es, per Gerichtsurteil, erlaubt, seine Kinder so zu nennen, wie den Nachwuchs Prominenter, die nicht in einem schlechten Ruf stehen: „Emma Tiger, nach der Tochter von Til Schweiger, oder Tyler nach dem Sohn und Summer nach der Tochter von Sarah Connor.“ Gang und gäbe, so die Expertin, sind inzwischen die Monate: „Von Januar bis Dezember ist alles dabei, meistens aber auf Englisch.“ Bisweilen wird auch gefragt: „Wir heißen so und so – könnte dieser Vorname zu unserem Kind passen?“ Cheyenne Blue Müller fiel glatt durch.

Wer im Standesamt auf Schröder, Kirsche oder Rumpelstilzchen, Superman, Wikileaks oder Waldmeister, Crazy Horse, Borussia oder Kaiserschmarrn pochte, erhielt auf Nachfrage bei der Leipziger Namensberatungsstelle rotes Licht: „Prinzipiell soll das Kind dadurch nicht herabgewürdigt werden oder Anlass zu Spötteleien bieten.“ Hingegen inzwischen Kraft Gesetzgeber erlaubt sind Film- und Märchengestalten wie Pumuckl, Schneewittchen, Tarzan und Winnetou. Prinzipiell zulässig und ebenfalls vor Gericht erstritten: „Fünf bis sieben Vornamen. Wobei man, durch Bindestrich und Doppelnamen, theoretisch tricksen könnte. Aber 14 Vornamen würde doch kein Standesamt zulassen.“

Wer heute seine Tochter Mia, Emma oder Hanna nennt oder seinen Sohnemann auf Jonas, Maximilian oder Ben taufen lässt, ist auf der sicheren Seite – aber auch auf einer wenig originellen. 2015 waren das die beliebtesten Vornamen für Mädchen und Jungen in Deutschland. Bei dem Versuch, sein Kind aus dem Heer der Sophias, Annas und Emilias, Leons, Henris und Finns hervorzuheben, ist allerdings Vorsicht geboten. Allzu schnell wird man Opfer eines Phänomens, das deutsche Sozialforscher „Chantalismus“ und „Kevinismus“ getauft haben.

Kreative Wortschöpfungen 

Was ursprünglich bildungsfernen Schichten unterstellt wurde (das Bedürfnis, Kindern mit Namen wie Kevin oder Chantal etwas mehr globalen Glanz zu verleihen) und Opa Herbert Knebel einst zu einer oft zitierten Ermahnung an seinen Enkel verleitete („Marzell, du sollst der Jackeliene nicht mitte Schüppe aufn Kopp hauen!“), breitet sich inzwischen bundesweit beängstigend aus. Auf Internetseiten wie chantalismus.tumblr.com werden Namen gesammelt, die an Stabreime erinnern (Hendrik Fredric Cedric), perfekt zu einer Barbiepuppe passen würden (Starlisha Sophie) oder eher als Produktbezeichnung für eine stylische neue Automarke, als für eine neue Erdenbürgerin taugen würden (Destiny Shayenne).

Wer seine Kinder Chanajah oder Connor nennt, erntet dafür nicht nur Spott im Internet. Er muss auch in Kauf nehmen, dass ihnen später dadurch Nachteile entstehen. Eine Studie der Uni Oldenburg hat ergeben, dass Kinder mit bestimmten Vornamen schlechtere Bildungschancen haben. Während Fabian, Maximilian und Sebastian für Grundschullehrer nach Talent und Fleiß klangen, hatten Robins, Justins und Dustins diesen Vorsprung nicht. Bei Kevin gingen sämtliche Alarmglocken der Pädagogen los: Jede Wette, dass der Junge ein verhaltensauffälliger Schüler ist. „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose“ wurde der Ausspruch einer Grundschullehrerin kolportiert – wovon der Begriff „Kevinismus“ abgeleitet wurde.

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Namen werden Kindern nicht nur in Standesämtern zugeeignet, sondern auch in Kirchen. In den Taufgottesdiensten von Pfarrer Christian Siebold gibt es immer einen Moment, der besonders anrührend ist. Mit einer kleinen Mia, einem kleinen Tom oder einem kleinen Vincent auf dem Arm macht der 52-Jährige „einen Zug durch die Gemeinde“ – er stellt den Neuzugang denjenigen vor, die an diesem Tag im Gotteshaus sitzen. Das tut der gebürtige Bochumer, der seit 2009 in Recklinghausen-Ost, im Bezirk Quellberg/Arche, tätig ist, immer sehr behutsam: „Ich bin selbst fünffacher Vater.“ Besonders ältere Menschen, so Siebold, lieben diesen Ritus, der einen besonderen Akzent setzt: „Was gibt es Schöneres, als in strahlende Kinderaugen zu sehen?“

Tim, Tom, Mats – kurze Namen klingen gut

Der evangelische Pfarrer tauft rund 210 Kinder pro Jahr. Zuvor – sechs bis acht Monate nach der Geburt des Kindes – führt Siebold mit den Eltern ein Gespräch: „Dabei geht es um den Ablauf, aber auch solche Fragen wie ,Was soll ich meinem Kind anziehen?’ oder ,Wer zündet die Taufkerze an?’, werden gestellt.“

Der Name des Täuflings ist ebenfalls Thema: „Zum einen wird gewählt, was gefällt, zum anderen spielt oft auch die Tradition eine Rolle. Etwa, wenn ein Kind mit Zweitnamen nach dem Großvater benannt wird. Allgemein geht der Trend zu kurzen Namen – Tim, Tom, Mats.“ Wobei die Eltern des Letzteren dabei Mats Hummels im Blick hatten. Ob sie den auch noch mögen, wenn er vom BVB nach Bayern abwandert?

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Eine ganz eigene Namenstradition haben die Russlanddeutschen der Gemeinde: „Hier kehren bestimmte Namen wie Vincent, Alexander, Michael oder Michail immer wieder.“ Wenn er mit dem frisch getauften Kind durch die Kirche geht, stellt der Pfarrer es gerne auch persönlich vor, indem er einen Bezug zur Bedeutung des Namens herstellt: „Schaut mal – hier kommt Lio, der Löwe.“ Bei ihm selbst sei der Name Programm: „Christian kommt vom griechischen ,Christianos’, dem Anhänger Christi.“ Während seine beiden Ältesten eher klassische Namen tragen – „Anna Irene und Jan-Philipp“ fiel die Wahl für die drei Jüngeren auf einen Mix aus Namen, die man nicht allzu häufig hört: „Vitus Karl, Hugo Justus und Philo Gerd.“ Gerd, so hieß der Großvater von Siebolds Frau Maike. Auch hier geht also der Blick zurück, auf die Geschichte der eigenen Familie.

Um der Verwirrung werdender Mütter und Väter Einhalt zu gebieten – „Wie mach’ ich’s richtig, was kann ich falsch machen?“ – sei hier noch einmal die Leipziger Namensforscherin Gabriele Rodriguez zitiert: „Wenn Eltern einen seltenen Namen für ihr Kind wünschen, dann sollte er nicht zu exotisch sein. Ich sage dann immer: ,Stellen Sie sich vor, Sie würden so heißen? Wie würden Sie sich damit fühlen? Und wenn der Name extrem exotisch ist, dann lieber noch einen zweiten, weniger ausgefallenen Namen, der auch gut aussprechbar ist, anfügen. Berücksichtigen sollte man auch den landestypischen Dialekt und die Kombination von Vor- und Familiennamen.“ Gabriele Rodriguez selbst heißt nach der berühmten DDR-Eisläuferin Gabriele Seyfert: „Meine Mutter war ein großer Fan von ihr.“

Heute heißt Ghislaine Hempel Ghislaine Mercier. Sie hat Yves in Frankreich kennen- und lieben gelernt und ist zu ihm gezogen. Dort wundert sich niemand über ihren Vornamen. Als Ghislaine und Yves ihr erstes Kind erwartet haben, einen Jungen, haben sie lange überlegt, wie der heißen soll: Leo Ludger. Leo, weil das so schön kurz ist und in fast jeder Sprache kein Problem, und Ludger nach dem Vater von Ghislaine. „Lüd – comment?“ Diese Frage hat Leo noch nie gehört. So lieb er Opa Lüdgähr auch hat – seinen Namen lässt er lieber weg.