Ruhrgebiet. . Die Tauben sind die Rennpferde des kleinen Mannes und zugleich die Ratten der Lüfte. Bei keinem anderen Tier gehen die Meinungen derart auseinander.
Für Heribert Balzer ist es das Schönste, wenn er sie am Himmel sieht: Weit oben als kleiner, schwarzer Punkt, dann immer größer, bis er ihr in der Sonne schimmerndes Gefieder erkennt. Nach einer langen Reise von hunderten von Kilometern kommt seine Taube zurück. Nach Hause. Zu ihm. „Jetzt muss es nur noch Pieps machen“, sagt der 73-Jährige aus Essen-Überruhr und meint damit nicht die Brieftaube, sondern das Transpondergerät, das heute ähnlich wie der Scanner an der Supermarkt-Kasse den Ring am Fuß registriert und so die Zeit, wann der Vogel gelandet ist. Vielleicht hat es ja geklappt, und Balzers Taube hat das Rennen gemacht?
Einige Flügelschläge weiter:
„Ich wünschte, ich könnte drüberfliegen“, sagt Jutta Kreienbaum und meint damit eine Autobahnunterführung in Herne. Der Gehweg an der Horsthauser Straße sei im Tunnel voller Taubenkot. „Das ist ein Schandfleck für die Stadt. Es stinkt, es ist verdreckt, es ist einfach eklig“, ärgert sie sich. Dabei sei die Lösung doch einfach, meint die Inhaberin eines Übersetzungsbüros. Und billiger als die Reinigung allemal. Man müsste nur Spikes anbringen, diese Nadeln, auf denen sich Tauben nicht niederlassen. Dann bräuchten Fußgänger nicht länger eng am Straßenrand gehen. „Ich ziehe meine Hunde immer weg. Tauben sind ja Krankheitsträger.“
Die Taube – bei kaum einem anderen Tier gehen die Meinungen derart auseinander. Die einen lieben sie und sind bereit, Hunderte und Tausende von Euro zu zahlen und noch mehr Stunden des Lebens in das Tier zu investieren. Die anderen verachten und bekämpfen die Taube, weil sich der Kot in den Autolack frisst und Gebäude verunstaltet. Die Menschen nennen die Tauben die „Rennpferde des kleinen Mannes“ und die „Ratten der Lüfte“. Aber selbst viele Taubenliebhaber machen einen Unterschied zwischen Tauben erster und zweiter Klasse.
Eine Taube erster Klasse ist auf jeden Fall die „AS 969“ aus Düsseldorf. Im Dezember machte sie sogar im Ausland Schlagzeilen: „Taube im Wert von rund 150.000 Euro gestohlen.“ Wobei das nicht mal der höchste Preis ist, der je für eine Taube mit solch guten Genen bezahlt wurde. Christoph Schulte vom Verband Deutscher Brieftaubenzüchter in Essen sagt, dass schon mehr als das Doppelte für eine Taube hingeblättert wurde. „Taubendiebstähle sind gar nicht so selten. Ungewöhnlich ist, dass der Besitzer dem Finder eine Belohnung von 10.000 Euro zahlen will“.
Der Tauben-Dieb muss sich mit dem Düsseldorfer Schlag ausgekannt haben, auf den ersten Blick ist solch ein begehrtes „Rennpferd“ ja kaum von seinen Artgenossen zu unterscheiden. Was er mit der wertvollen Taube anfangen will, ist schleierhaft. Verkaufen kann er sie wohl nicht, weil sie bekannt ist – wie ein gestohlenes Kunstwerk.
„Superstars“ wurden auch auf der nach eigenen Angaben weltweit größten Taubenausstellung am vergangenen Wochenende prämiert. Allerdings ging es in der Dortmunder Westfalenhalle nicht um den fehlerfreien Gesang, sondern um den Vogel, der die meisten Preise bei Wettflügen erzielt hat. Offizielle Preisgelder gibt es heute eher selten. „Es geht um Ruhm und Ehre“, so Schulte. Und um private Wetten.
Tauben finden mit etwas Training über 600 Kilometer entfernt von ihrem Schlag zurück nach Hause. Diese Treue lässt die Herzen der Brieftauben-Züchter höherschlagen. Dabei rätseln bis heute Forscher über das Orientierungstalent, das in den Weltkriegen genutzt wurde, um Botschaften zu den Kommandostützpunkten zu schicken. Entsprechend anerkannt waren die Tauben.
Heute gibt es 40.000 Brieftaubenzüchter in Deutschland, von denen ein Drittel im Ruhrgebiet lebt, so Schulte vom Verband: „In den 50ern waren es doppelt so viele.“ Der 64-jährige Züchter Rolf Mondring aus Gelsenkirchen-Buer sagt mit Wehmut in der Stimme: „Es war des Bergmanns liebstes Kind.“
Doch während hierzulande mit dem Bergbau auch die Begeisterung für den Brieftaubensport schwindet, erlebt er etwa in China einen wahren Boom. Nicht nur das einfache Volk liebt dort den Vogel, auch Millionäre sind fasziniert von seinem Können. „Eine Taube würde sich normalerweise nicht so viele Kilometer von ihrem Partner entfernen“, kritisiert Bärbel Thomassen, Leiterin des Albert-Schweitzer-Tierheims in Essen. „Ist das Prestige so groß, dass man ihnen das zumuten muss?“
Bis heute nicht ganz erforscht – die Heimattreue der Taube
Wissenschaftler vermuten, dass sich die Tauben, die bis zu 100 Kilometer pro Stunde fliegen, auf ihrer langen Reise am Sonnenstand und an Landschaftsmerkmalen orientieren. Auch Erdmagnetismus könnte eine Rolle spielen. Zurzeit erforscht Hans-Peter Lipp, Professor vom Anatomischen Institut der Uni Zürich, eine weitere Theorie: Die Schwerkraft könnte den Tauben ebenfalls beim Navigieren helfen. Aber nicht alle erreichen das Ziel.
Hat sich eine Brieftaube „verflogen“, lässt sich mit der Nummer auf dem Ring ermitteln, wem sie gehört. Der Verband mit Sitz in Essen hilft mit seiner Zuflieger-Abteilung und der angeschlossenen Taubenklinik dabei. Zu Reisezeiten muss die Klinik schon mal 100 Taubenkot-Proben pro Tag im Labor untersuchen, auf Parasiten, auf Salmonellen. „Die Züchter wollen ansteckende Krankheiten in ihren Schlägen verhindern“, erklärt Tierärztin Elisabeth Peus und räumt sogleich mit einem Vorurteil auf: „Natürlich kann eine Taube wie jedes andere Tier Krankheiten übertragen. Es gibt aber relativ wenige, die für den Menschen so ansteckend sind, dass wir deswegen direkt Probleme bekommen. Da muss man schon einen sehr engen Kontakt haben, und selbst dann passiert sehr, sehr selten etwas. Also wenn man durch die Stadt geht, ist man nicht groß gefährdet. Das wird überbewertet.“
Die Tierärztin schiebt vorsichtig in den Schnabel einer Taube ein langes Wattestäbchen tief in deren Hals, um einen Kropf-Abstrich zu machen. „Die Brieftaube ist ein Hochleistungstier wie ein Rennpferd, und nur ein optimal versorgtes Tier kann auch optimale Leistungen bringen“, sagt die 35-Jährige. Und dafür sind viele Züchter bereit, einiges zu zahlen. Für Untersuchungen, aber auch für energiereiches Futter, das Namen trägt wie „Energy Power Mix“. Oder spezielle Kräutermischungen, um die Atemwege während der Reisezeit frei zu halten.
Viele Tauben bleiben auf der Strecke
Doch wer nichts leistet, ist im Taubensport nichts wert, kritisieren Tierschützer. Hunderte von Tauben blieben auf der Strecke. Christoph Schulte vom Verband hält dagegen: „Der Züchter möchte seine Tauben nach Hause bringen, er hat sie doch von klein auf gepflegt.“ Nachgefragt auf der Dortmunder Messe mit ihren rund 15.000 Besuchern erklärt ein Züchter, dass es für ihn selbstverständlich sei, für seine Tauben ebenfalls hunderte Kilometer zu reisen, wenn sie einen Flug nicht geschafft hätten. Ein anderer, der auch anonym bleiben will, druckst herum bei der Frage, was er macht, wenn eine Taube nach einem Flug stark verletzt zurückkommt. Schließlich sagt er: „Ich drehe ihr den Hals um . . .“ Und fügt schnell hinzu: „Das klingt schlimmer als es ist. Das tut denen nicht weh. Das ist so, als wenn man Ihnen ein Haar ausreißen würde.“
Privatleute hätten mal eine seiner Tauben gefunden und zum Tierarzt gebracht: „Das hätte der doch sehen müssen, dass das Tier es nicht mehr lange macht. Doch ich bekam dann die Rechnung: 48 Euro. Und das Tier war am nächsten Tag tot.“
Melina Köchling und Markus Fuhrmann, beide 32, haben schon so mancher Taube das Leben gerettet. Sie fangen in ihrer Freizeit die verletzten Tiere, bringen sie zum Arzt, pflegen sie zu Hause gesund und lassen sie wieder frei. „Schauen Sie, die da vorne hat einen Ring am Fuß“, sagt Fuhrmann und zeigt auf eine Brieftaube auf dem Platz vor dem Duisburger Bahnhof, die den gurrenden Stadttauben zum Verwechseln ähnlich ist. „Stadttauben und Brieftauben, das sind doch zwei Paar Schuhe“, sagt der Züchter und Preisrichter Heribert Balzer. „Man sieht auch den Unterschied: Brieftauben sind besser ernährt und gepflegt.“
Aber beide stammen von der Felsentaube ab, die die Menschen einst aus dem Süden in den Norden holten. Statt auf Fels- brüten sie auf Hausvorsprüngen. Stadttauben sind verwilderte Haustiere. Sieht man Tauben am Rande der Stadt, sind das oft wirklich wilde Tauben. Etwa die Ringeltaube, die mit 365.000 Abschüssen am häufigsten von Jägern erlegte Tierart in der Saison 2013/2014 in NRW.
Genetische Vaterschaftstests gibt es zwar auch bei Tauben. Aber nur bei solchen, die es zu Ruhm gebracht haben. Wenn Züchter mehrere hundert Euro für den Nachwuchs hinlegen, dann will mancher wissen, ob das Tier auch wirklich die Gene des erfolgreichen Vaters in sich trägt. Paart sich jedoch eine Brieftaube mit einer Stadttaube, kann die Brieftaube noch so erfolgreich gewesen sein. Das Taubenkind wird eine Stadttaube. Und damit zum verhassten Tier.
Der Hass auf die Taube, der Dreck auf Häusern – und eine Lösung
„Ich habe mal eine Taube gesehen, der eine Spritze durch den Hals geschoben worden war, einmal quer durch. Das war das Schlimmste“, so die Essener Tierheim-Leiterin Thomassen. In der Taubenklinik landen auch schon mal verletzte Stadttauben. Die Finder erzählen, dass Menschen nach ihnen getreten haben. Thomassen: „Man muss nur mit offenen Augen durch die Stadt gehen. Viele Eltern finden es nicht problematisch, wenn Kinder Tauben treten. Mehr Sensibilität anderen Geschöpfen gegenüber wäre schön.“
Wer eine verletzte Taube findet, bekommt Hilfe zu Öffnungszeiten der Tierheime, bei Tierärzten und in der Taubenklinik. „Die Stadttaube ist ein Wildtier. Wir wünschen uns schon, dass die Kosten, die anfallen, von dem Finder übernommen werden“, sagt Peus von der Taubenklinik. Thomassen: „Wir haben die Behandlungen bisher finanziert. Aber es ist eine Grauzone.“ In einigen Tierheimen fehle schlicht das Geld.
30 Vögel mit der gleichen Verletzung
Fuhrmann und Köchling fühlen sich in Duisburg allein gelassen. Ende vergangenen Jahres fanden sie in der Nähes des Bahnhofs über 30 Vögel mit ähnlichen Verletzungen: Beide Flügel der Taube waren an der jeweils gleichen Stelle gebrochen. „Das passiert nicht bei einem normalen Unfall“, sagt die Psychologie-Studentin Köchling, das habe auch der Tierarzt bestätigt. „Es dauert lange, bis gebrochene Flügel heilen. Und was sollen wir mit den Vögeln machen, die flugunfähig bleiben?“ Die Ursache für die Brüche ist ein Rätsel. Doch nachdem die Lokalredaktion in Duisburg davon berichtet hatte, haben die Tierschützer keine Tauben mehr mit diesen auffälligen Verletzungen gefunden.
Wenn Fuhrmann mit Futter die kranken Tiere anlockt, würden Vorbeigehende rufen: „Füttern verboten!“, „Scheißviecher.“ „Alle vergiften!“ Im Gegensatz zu den Ratten, mit denen die Tauben verglichen werden, verstecken sie sich nicht vor den Menschen. Das nährt den Hass. Fuhrmann: „Ich kann den Ärger über den Dreck verstehen. Aber das Problem ist von Menschenhand gemacht, dann sollte der Mensch auch Verantwortung übernehmen.“
Fütterverbote sind in den Städten die Regel, damit die Stadttauben nicht zur Plage werden. Füttert jemand trotzdem, muss er ein Bußgeld von etwa 40 Euro zahlen. Bei mehrmaligen Verstößen kann eine Geldbuße bis zu 1000 Euro fällig werden. Doch die Tauben sind anpassungsfähig, fressen die Abfälle, Pommes, Brötchen. „Während der Weltkriege gab es keine Stadttauben, weil die Leute selbst kaum etwas zu essen hatten und nichts auf die Straße geworfen haben“, sagt Tierärztin Peus. Der Müll ist auch dafür verantwortlich, dass so viele Stadttauben auf Stümpfen laufen: Sie suchen sich im Abfall ungeeignetes Nistmaterial, etwa Obstnetze, die sich schmerzhaft um ihre Zehen wickeln, die absterben, wenn nicht ein Tierarzt oder -schützer die Netze durchschneidet.
Die Taubenabwehr ist ein gutes Geschäft
Das Geschäft mit der Taubenabwehr blüht – Spikes, Fangnetze, gespannte Drähte. Sie verlagern jedoch das Problem und bergen eine Verletzungsgefahr für die Tiere. Deshalb sind die Duisburger Tierschützer nicht die einzigen, die sich ein Stadttaubenprojekt wünschen, bei dem die Eier durch Gips-Attrappen ausgetauscht werden. Das ist eine Möglichkeit, die Anzahl der Tiere zumindest zu reduzieren, ohne sie zu töten oder zu quälen. Eine andere Lösung, die Taubenpille, lässt sich nur schwer kontrollieren. Auch Singvögel könnten sie fressen.
Vorstöße in Städten wie Bochum und Mülheim sind gescheitert, und selbst an Orten, die bereits Taubenhäuser haben, ringen sie oft um ihre Existenz wegen der Kosten und Zuständigkeiten. Gleichzeitig zahlen Städte und Privatleute riesige Summen für die Reinigung der mit Taubenkot beschmutzten Gebäude.
Mit rund 1 Euro Futterkosten pro Taube im Monat muss man rechnen, sagt Karl Poczesniok vom Stadttauben-Projekt in Essen. Das klingt nicht viel. Aber als das Projekt 2008 startete, zählte der Leiter 1270 Tauben. Heute sind es nur noch etwa 400. Der Wohnungsanbieter Allbau übernimmt die Futterkosten und stellt einen Raum für den Schlag auf einem Hausdach am Kopstadtplatz zur Verfügung. Das Jobcenter zahlt die Arbeit des 43-jährigen Leiters und die der bis zu acht Jugendlichen, die füttern, säubern, Eier austauschen. Diese Gemeinwohlarbeit soll sie fit für den Arbeitsmarkt machen.
732 Eier wurden durch Gips-Attrappen ausgetauscht
Da der Erfolg solcher Projekte immer wieder angezweifelt wird, geht Poczesniok, dessen Vater Brieftaubenzüchter ist, wie ein Statistiker vor: Penibel zählt er jedes Ei, das er und die Jugendlichen austauschen. Das waren allein im letzten Jahr 732 Eier. Poczesniok wiegt den abgekratzten Kot, der sonst auf Gebäuden gelandet wäre: 1200 kg im Jahr 2014. Und er zählt die Brieftauben, die auf dem Dach landen. Seit Projekt-Start: 127 Brieftauben. Poczesniok: „So viel wie ein ganzer Schlag.“