Essen. Torsten Withake, neuer NRW-Chef der Bundesagentur: Rückzug der Industrie macht das Ruhrgebiet robuster. Wie er Langzeitarbeitslosigkeit bekämpft.
Das Ruhrgebiet hat nicht mehr viel Industrie – ein Vorteil, sagt der neue NRW-Chef der Bundesagentur in Arbeit, Torsten Withake. Das mache die Region weniger anfällig für Konjunkturkrisen wie diese, Kurzarbeit spiele bisher kaum eine Rolle im Ruhrgebiet.
Herr Withake, ein zehnjähriger Aufschwung geht zu Ende, von dem das Ruhrgebiet weniger profitiert hat als andere Regionen. Was droht nun?
Withake: Ich sehe kein abruptes Ende des Aufschwungs. Auch das Ruhrgebiet hat in den vergangenen Jahren Beschäftigung auf- und Arbeitslosigkeit abgebaut. Hier sinken die Arbeitslosenzahlen im Gegensatz zu den anderen NRW-Regionen auch jetzt noch leicht. Dies allerdings von einem hohen Niveau aus, deshalb stimmt es leider, dass der Rückstand des Ruhrgebiets nicht kleiner geworden ist. Und die neuen Jobs, darunter zum Glück auch viele Helfertätigkeiten, haben oft nicht das Lohnniveau der früheren Industriearbeitsplätze.
Weniger Industrie – weniger krisenanfällig
Kein Ende des Aufschwungs? Die Kurzarbeit steigt doch bereits kräftig an ...
Withake: …, was aber vor allem Regionen mit einem sehr hohen Beschäftigungsanteil in der Industrie trifft, wie Südwestfalen. Weil das Ruhrgebiet nicht mehr so viel verarbeitendes Gewerbe hat wie früher, ist es inzwischen weniger anfällig für Konjunkturkrisen, das ist der positive Effekt des Strukturwandels. Wir hatten 2019 im Ruhrgebiet 17.000 Kurzarbeits-Anzeigen, das ist weit entfernt von dem, was wir in der Krise 2008/09 erlebt haben – und die tatsächlich realisierte Kurzarbeit liegt bei unter 10 Prozent der erfolgten Unternehmensanzeigen. Ideal wäre es, wenn die Unternehmen die Kurzarbeit jetzt nutzen, um ihre Mitarbeiter zu qualifizieren. Dann können sie gestärkt aus dieser schwierigen Phase hervorgehen.
Zur Person: Torsten Withake
Torsten Withake (53) hat im vergangenen Dezember Christina Schönefeld (62) an der Spitze der NRW-Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit (BA) abgelöst. Die langjährige NRW-Chefin ist in den Vorstand der BA nach Nürnberg gewechselt.
Withake hat in den Jobcentern Düsseldorf, Bochum und Essen gearbeitet, von 2011 bis 2015 war er Geschäftsführer der Agentur für Arbeit in Essen. Von dort wechselte er als Geschäftsführer für das Arbeitsmarktmanagement in die Regionaldirektion nach Düsseldorf.
Das große Problem im Ruhrgebiet ist die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit. Müssen wir uns damit abfinden, sind Sie machtlos dagegen?
Withake: Nein, wir sind zum Beispiel sehr dankbar für die neue Möglichkeit, Langzeitarbeitslose über fünf Jahre mit Lohnzuschüssen wieder in Arbeit zu bringen. Der Bund hat mit dem Teilhabe-Chancengesetz eine Idee aus NRW ausgerollt. Das hilft uns wirklich, derzeit können wir 13.000 Menschen und ihren Familien in NRW eine neue Perspektive geben, vor allem im Ruhrgebiet. Mich freut sehr, dass die Revierstädte hier zusammen anpacken, das hat einen echten Ruck gegeben.
„Es hat einen echten Ruck gegeben“
Fünf Jahre Lohnsubvention klingt wie die Luxusversion der alten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die im Nachhinein ein teurer Flop waren.
Withake: Der grundlegende Unterschied ist, dass die ABM gemeinnützig und zusätzlich – sprich arbeitsmarktfern sein mussten. Jetzt vermitteln wir die Arbeitslosen in echte Beschäftigung und führen sie damit viel näher an den realen Arbeitsmarkt heran. Es gibt ja genug Arbeit in der freien Wirtschaft, ich bin daher zuversichtlich, dass die teilnehmenden Unternehmen ihre neuen Mitarbeiter auch nach Ende der Lohnzuschüsse halten werden.
Bei den vielen Langzeitarbeitslosen reichen 13.000 geförderte Stellen doch nicht ...
Withake: …, aber es ist ein erster Schritt. Wir haben im Ruhrgebiet zuletzt ganz gute Erfolge beim Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit erzielt. Und da machen wir weiter und schaffen es auch, gemeinsam mit den privaten und öffentlichen Unternehmen und den Arbeitnehmervertretungen, in diesem Jahr weiteren 9.000 Menschen diese Perspektiven zu eröffnen.
Die meisten Arbeitslosen haben keinen Berufsabschluss
Die Beschäftigung im Ruhrgebiet wächst, Arbeitgeber klagen über Fachkräftemangel. Gleichzeitig bleibt die Arbeitslosigkeit hoch. Das klingt paradox, wie passt das zusammen?
Withake: Zum einen nehmen viele qualifizierte Menschen eine Arbeit auf, die vorher nicht arbeitslos gemeldet waren, etwa weil sie sich um die Familie gekümmert haben. Zum anderen fehlen den Arbeitslosen oft die Fähigkeiten für die angebotenen Stellen. Im Ruhrgebiet haben 63 Prozent der Arbeitslosen keinen Berufsabschluss, das ist das große Problem. Und viele Ältere wollen anpacken und haben Qualifikationen, die aber so nicht mehr gefragt sind. Entscheidend wird daher sein, sich weiter zu qualifizieren.
Die Digitalisierung wird diese Qualifizierungslücke weiter verschärfen. Was tut die Bundesagentur dagegen?
Withake: Wir qualifizieren die Arbeitslosen, helfen aber auch den Betrieben, indem wir sie dabei beraten, welche Qualifizierung für welchen Mitarbeiter sinnvoll ist und übernehmen auch die Kosten. Ich sehe aber auch jeden Einzelnen in der Verantwortung, sich so zu qualifizieren, dass er vor den Folgen der Digitalisierung gefeit ist und bestehende Chancen ergreift.
Nur können sie nicht jeden Industriemechaniker zum IT-Fachmann weiterbilden.
Withake: Nein, aber das ist in den meisten Fällen auch gar nicht nötig. Es geht um Qualifizierungen im eigenen Beruf, meist um die Anwendung von IT-Lösungen. Der Heizungsbauer wird mit dem Tablet-PC umgehen müssen, der Dachdecker eine Drohne steuern, bevor er auf die Leiter steigt.
Sorge um die vielen Logistik-Jobs
Zu den Branchen, die laut Prognosen am meisten Arbeitsplätze durch Automatisierung abbauen können, zählt die Logistik, die im Ruhrgebiet einen beispiellosen Boom erlebt hat. Fällt uns das bald auf die Füße?
Withake: Das kann eine Gefahr sein. Wir müssen verantwortungsvoll mit den vielen neu entstandenen Arbeitsplätzen umgehen, die wichtig sind, um auch weniger qualifizierte Menschen aus der Arbeitslosigkeit zu holen. Es gibt nach wie vor zu wenige Helfertätigkeiten im Ruhrgebiet für die vielen Geringqualifizierten. Insgesamt ist der Arbeitsmarkt im Ruhrgebiet aber viel weniger anfällig für die Folgen der Digitalisierung als in anderen Regionen. In der großen Gesundheitsbranche und den vielen beratenden Tätigkeiten im Dienstleistungssektor bedroht der digitale Wandel kaum Arbeitsplätze.
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Also sollen wir heute froh sein über den Niedergang der Industrie?
Withake: Nein, jeder sichere Arbeitsplatz, ob in der Industrie oder woanders, ist hoch willkommen. Trotzdem versuche ich immer, das Positive zu sehen. Und in der Tat sind Regionen mit einem hohen Anteil an produzierendem Gewerbe stärker von der Digitalisierung betroffen als Dienstleistungs-Regionen wie das Ruhrgebiet. Und auch der hohe Bestand an Arbeitslosen birgt eine Chance: Wir haben im Ruhrgebiet viele Menschen, die sich noch weiter entwickeln können. Wir müssen mehr junge Leute, besonders auch junge Frauen mit Migrationshintergrund, für eine Ausbildung interessieren und motivieren. Und wir müssen die lebensälteren Arbeitslosen fit für die Jobs machen, die es heute gibt. Wenn uns das gelingt, wird das Ruhrgebiet aufholen.