Goch. Ein Hof aus Goch züchtet das Huhn der Zukunft. Warum das gute Nachrichten für Eintagsküken, Bruderhähne und Verbraucher sein könnten.
Westlich von Goch, kurz vor der Grenze zu den Niederlanden öffnet sich langsam ein massives Rolltor. Dahinter eine Reihe von Lagerhallen, in die Mitarbeiter nur über Hygieneschleusen gelangen. Jede Halle ist noch einmal eigens umzäunt. Wo früher allerhand Militärgerät der Bundeswehr stand, werden von Jens und Andrea Bodden heute Hühner gezüchtet. Der Wert der 2000 Tiere liegt im niedrigen siebenstelligen Bereich. Es sind nicht irgendwelche Hühner. Was sie so besonders macht? Sie können Eier legen und Fleisch geben. Zweinutzungshühner, so der etwas sperrige Begriff für die Multitalente.
Multitalent? Kann doch jedes Huhn, oder nicht? Stimmt prinzipiell – wenn es nur um den privaten Hühnerstall im Garten ginge. Für die industrielle Landwirtschaft geeignet sind indes nur noch hoch spezialisierte Zuchtlinien, echte High Performer, die entweder fast jeden Tag ein Ei legen oder innerhalb von nur 35 Tagen ihr Schlachtgewicht erreichen. Diese jahrzehntelang eingespielte Arbeitsteilung von Lege- und Masthybriden bringt indes tierethisch ein Problem mit sich.
Das Huhn der Zukunft kommt aus Goch: „Das macht weltweit keiner so.“
Denn in jedem zweiten Ei steckt nun mal ein männliches Küken. Bei der Züchtung von Legehennen sind die ohne Nutzen. Sie werden deswegen normalerweise – weil das am billigsten und einfachsten ist – noch am Tag Eins geschreddert oder vergast. 45 Millionen allein hierzulande – jedes Jahr. Bis 2022, da wurde das Kükentöten verboten, allerdings nur in Deutschland.
„Das Problem ist, dass sich nicht alle daran halten“, sagt Jens Bodden. Das führe zu Preisverzerrungen. Wer die männlichen Küken weiter entsorgt, hat weniger Kosten und kann seine Eier billiger auf dem Markt platzieren. „Und die Verbraucher wertschätzen nun mal in erster Linie über das Portemonnaie“, sagt Bodden, der mit seinen Zweinutzungshühnern Geflügelprodukte einer Güteklasse anbietet, für die es derzeit weder EU-Siegel noch einen Eier-Code gibt. Kein Wunder. Gefragt danach, wer denn sonst noch Zweinutzungshühner in diesem Maßstab züchtet, sagt Jens Bodden: „Das macht weltweit keiner so.“
Das Verbot des Kükentötens ist für die industrielle Landwirtschaft ein Riesenproblem
Dabei gäbe es Grund genug, auf das Verbot des Kükentötens mit neuen Zuchtlinien zu reagieren. Denn momentan wird das Verbot oft umgangen, gerade in NRW: Mindestens drei der hiesigen Brütereien sollen Medienberichten zufolge ihre männlichen Küken ins Ausland verfrachtet haben. Alternativ können Legebetriebe die Küken auch einfach importieren. Dann gibt es noch Methoden, das Geschlecht im Ei zu bestimmen: Das ist aufwendig, teuer und umstritten, weil nicht klar ist, ab wann beim Embryo das Schmerzempfinden einsetzt. Wieder andere ziehen die ,Brüder’ der Legehennen groß.
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Nur, dazu sind sie eben eigentlich nicht da. Legehennen wurden in jahrzehntelanger Arbeit einzig und allein für den Job des Eierlegens herangezüchtet; die in der Mast eingesetzten Tiere eigenen sich wiederum nicht für eine wirtschaftliche Eierproduktion. Kurz: Das Verbot des Kükentötens ist für die arbeitsteilig organisierte Geflügelproduktion ein Riesenproblem. Und für den Verbraucher ist die derzeitige Praxis mindestens unbefriedigend.
Demeter und Bioland setzen auf ,Coffee’ und ,Cream’
Hier kommen Coffee und Cream ins Spiel. So heißen die beiden Zuchtlinien, die die Boddens gemeinsam mit der ÖTZ (Ökologische Tierzucht) züchten. Getragen wird die gemeinnützige GmbH von den Bioverbänden Bioland und Demeter, die großes Interesse daran haben dürften, Hühner für den Biobetrieb zu züchten. Was viele nämlich nicht wissen ist, dass für Biofleisch und -eier die gleichen Tiere von den gleichen Anbietern genutzt werden, wie für konventionelle Produkte.
Coffee und Cream sind Kreuzungen dreier alter Rassen. Die Namen, die auf das weiße oder mehrfarbige Federkleid der Tiere anspielen, sind bei der Familie Bodden in der Küche entstanden – beim Kaffeetrinken natürlich. 2015 wurde die erste Generation eingestallt, heute brütet bereits die sechste am einstiegen Kasernenstandort.
Auch hier wird auf Effizienz gezüchtet, auch Coffee und Cream sollen möglichst wirtschaftlich sein. In besonderem Maße gilt das natürlich für die Hähne. Am Anfang hätten sich schnell Erfolge eingestellt, nach wie vor sei noch Luft nach oben. „Züchtung hört nie auf“, sagt Jens Bodden. Dazu ein kurzer Blick auf die Zahlen: Die ÖTZ-Hühner legen um die 230 Eier im Jahr, Hochleistungstiere schaffen 100 mehr. Nach 17 Wochen kommen die Zweinutzungshühner auf circa 2,7 Kilogramm, konventionelle Masthybride schaffen das ganze 10 Wochen schneller.
Das Zweinutzungshuhn soll also die Problematik der entweder entsorgten oder kaum Fleisch ansetzenden Bruderhähne lösen und zugleich sozusagen das Hochleistungshuhn der Bio-Geflügelwirtshaft werden – ohne die unschönen Begleiterscheinungen, die bei der Massentierhaltung – mit oder ohne Bio-Siegel – auftreten: Federpicken, Kannibalismus, gebrochene Brustbeine...
Klasse statt Masse: Das Marktpotenzial der Zweinutzungshühner ist begrenzt
Im Stall mit seinen vor wenigen Tagen geschlüpften Küken erklärt Jens Bodden, was er bereits bei der Aufzucht anders macht. Reden zum Beispiel. „Die sollen sich ja an uns gewöhnen“. Durch die Fenster dringt Tageslicht. Ebenfalls ungewöhnlich, denn Küken werden sonst gern im Halbdunkel gehalten. Für die Biohaltung brauche es dagegen Tiere, die gern nach draußen gehen. „Früher war das alles normal“, sagt Bodden, der den Hof in der zweiten Generation führt. Das Zweinutzungshühner ruhiger und einfacher im Umgang sind und dass sie deutlich weniger zum Federpicken neigen, wurde unlängst auch in einer Studie belegt.
Das Mehr an Tierwohl hat aber natürlich auch ihren Preis. 54 Cent kostet das Ei bei den Boddens auf dem Hof, 75 bis 80 Cent im Handel. Eier aus Bodenhaltung kosten im Discounter um die 20 Cent, Bio-Eier fangen dort bei 32 Cent an. Margit Wittmann, die an der FH Südwestfalen an einer Studie zum Thema beteiligt war, räumt den Zweinutzungshühnern auf Nachfrage trotzdem durchaus Marktpotenzial ein: für die Nische der ökologischen Landwirtschaft. Potenzial sieht auch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, welches die Aufzucht von Bruderhähnen, vor allem aber die Verwendung von Zweinutzungshühnern seit 2008 mit 14,8 Millionen Euro Fördermitteln unterstützt.
Weniger Brust, mehr Bollen: „Man legt den Fokus auf andere Kriterien“
Das Fleisch der Zweinutzungshühner ist kräftiger im Geschmack und „einen Tick trockener“, sagt Andrea Bodden. Es eigne sich durchaus als Filet für die Pfanne, besser aber als Braten. Das hänge davon ab, wie lange die Tiere zuvor gemästet wurden. „Man legt den Fokus auf andere Kriterien“, erklärt die Landwirtin. Soll heißen: Coffee und Cream sind keine Brustfilets auf zwei Beinen. Auch Flügel und Schenkel der Masttiere sind stark ausgeprägt.
Vertrieben werden die Produkte vor Ort im Hofladen, in Abokisten, oder auf Märkten. Auch eine Essener Fleischerei wird beliefert und ein Supermarkt mit Filiale in Dortmund. Am liebsten würde Jens Bodden sein Sortiment aber ausschließlich regional vertreiben, dafür reicht die Nachfrage vor Ort aber nicht.
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Bei den Konsumenten, findet Bodden, müsse ein generelles Umdenken stattfinden. „Für sein Haustier gibt der Verbraucher sein letztes Hemd. Da wird Tierwohl großgeschrieben. Aber einmal die Woche im Supermarkt wird das dann ausgeblendet.“ Da regiere dann nur noch der Preis. Andrea und Jens Bodden lassen sich davon nicht beirren. Ihr Motto: „Sinnmaximierung statt Gewinnmaximierung“.
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