Essen. Der Nachwuchsmangel der NRW-Wirtschaft spitzt sich zu: Aktuell gibt es nur noch 16.000 Jugendliche für 32.000 unbesetzte Ausbildungsplätze.
Der Nachwuchsmangel verschärft sich in diesem Jahr noch einmal dramatisch. Kurz vor Ende des Ausbildungsjahres 2021/22 im September sind in Nordrhein-Westfalen noch mehr als 32.000 angebotene Lehrstellen unbesetzt, gab die Bundesagentur für Arbeit (BA) am Freitag bekannt. Handwerk, Industrie und Handel sowie die freien Berufe werben um die weniger werdenden Jugendlichen, sich doch noch für einen ihrer Berufe zu entscheiden. Die Bundesagentur für Arbeit betont, wie gut die Chancen für die 16.000 noch suchenden Jugendlichen seien – jeder kann zumindest rechnerisch aus zwei freien Plätzen auswählen.
Neuer Negativrekord bahnt sich an
Doch so schön die große Auswahl für die Jugendlichen sein mag, für sehr viele Betriebe zeichnet sich eine weitere Zuspitzung ihres seit Jahren beklagten Fachkräftemangels ab. Weil der Bedarf an Auszubildenden wächst, gleichzeitig aber weniger Jugendliche die Schule beenden und eine Lehre beginnen wollen, steuert NRW auf einen neuen, heftigen Negativrekord zu: Da nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre längst nicht alle unversorgten Bewerberinnen und Bewerber noch unterkommen werden, drohen mehr als 16.000 Ausbildungsplätze verwaist zu bleiben. Der bisherige Negativrekord aus dem vergangenen Jahr liegt bei 11.700.
https://dcx.funkemedien.de/dcx/documents#/doc/doc7mkouw2pcxw141n69hxlWas das im Einzelfall bedeutet, verdeutlichte im Rahmen der Bilanzvorlage Berthold Schröder, der Präsident des Westdeutschen Handwerkskammertages: „Viele Betriebe könnten mehr Aufträge annehmen, doch dafür fehlt ihnen das Personal.“ Volkswirtschaftlich bedeutet das: Der Fachkräftemangel kostet bereits Wachstum und bremst die Konjunktur.
Industrie will mehr selbst ausbilden
Ähnlich sieht es in der Industrie aus. „Die Unternehmen finden keine Fachkräfte mehr auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb müssen sie mehr selbst ausbilden“, sagte Ralf Stoffels, Präsident der Industrie und Handelskammern in NRW. Tatsächlich wurden in Industrie und Handel bis einschließlich Juni mit 48.200 Ausbildungsverträgen fünf Prozent mehr abgeschlossen als vor einem Jahr. Verglichen mit 2019, also dem letzten Jahr vor der Corona-Pandemie, sind das aber immer noch 6000 weniger. Auch Stoffels betont die Chancen: „Jeder Jugendliche findet auch jetzt noch einen passenden Ausbildungsplatz.“
Auch interessant
Anfang September ist für die Bundesagentur und die Kammern nicht der Zeitpunkt für negative Bilanzen, sondern für Endspurt-Appelle. So mag der NRW-Chef der BA, Torsten Withake, den von ihm präsentierten Zahlen lieber nicht trauen. Ob es einen neuen Negativrekord gebe, „würde ich erst einmal in Abrede stellen“, sagte er auf Nachfrage unserer Zeitung. Er wolle sich darauf konzentrieren, noch möglichst viele Stellen zu besetzen und für die duale Berufsausbildung zu werben. Dabei denkt er auch an die rund 10.000 Jugendlichen, die bereits eine Alternative zur Ausbildung haben, aber weiter als suchend gelten.
Handwerk wirbt um Jugendliche mit Migrationshintergrund
Die Kammern werben ohnehin bei jeder Gelegenheit mit eindringlichen Worten für ihre Branchen. „Für uns zählt nicht, wo Du herkommst, sondern wo Du hin willst“, sprach Handwerks-Präsident Schröder bewusst Jugendliche mit Migrationshintergrund direkt an. In allen 100 Handwerksberufen gebe es noch offene Stellen. Und überall könne ein Azubi von heute „schon in zehn Jahren sein eigener Chef sein“.
IHK-Präsident Stoffels sieht die größten Probleme bei der Nachwuchssuche in der Gastronomie, in Hotels und der Veranstaltungsbranche – eine Nachwirkung der Corona-Pandemie. „Viele haben nach den Schließungen in der Pandemie immer noch die Sorge, ob sie hier einen sicheren Job haben“, sagte er. Die Industrie sei dagegen deutlich erfolgreicher bei der Nachwuchssuche und zunehmend attraktiv für Jugendliche.
Mehr Ausbildungsverträge in den Arztpraxen
Ein Plus an Ausbildungsverträgen um knapp 1000 auf 7160 verzeichnen auch die freien Berufe. Allen voran in den Arzt-, Zahnarzt- und Tierarztpraxen starten Tausende Auszubildende in diesen Tagen ihre Ausbildung. Auch Steuerberater und Rechtsanwälte bilden viele junge Menschen aus. Diese Stellen tauchen oft in der BA-Statistik gar nicht auf, sondern werden ohne Hilfe der Behörde besetzt, wie Bernd Zimmer, Verbandschef der freien Berufe in NRW, erklärte.
Das Interesse der Jugendlichen passt sich derweil der Entwicklung in den einzelnen Berufen an, so bewarben sich in diesem Jahr deutlich mehr Jugendliche um eine Ausbildung zum Softwareentwickler und Programmierer, das Plus von 407 Bewerberinnen und Bewerbern war das größte aller Ausbildungsberufe. Auch die Energietechnik, die Immobilienwirtschaft und die Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik waren gefragter als in den Vorjahren.