An Rhein und Ruhr. Unternehmen wollen Entschädigungen für Lohnfortzahlungen. Die Steuerzahler könnte das mehrere Millionen kosten.

Als der lettische Arbeiter B., zuständig für die Reinigung von Darmpaketen, am 20. Juni 2020 in die Corona-Quarantäne geschickt wurde, war er nicht krank. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, angeordnet vom Kreis Gütersloh, die viele Menschen traf, die damals auf dem Gelände des Fleischgiganten Tönnies in Rheda-Wiedenbrück arbeiteten. B. verbrachte drei Wochen in Quarantäne, und jetzt muss der Steuerzahler für seinen Verdienstausfall aufkommen. So hat es das Verwaltungsgericht in Münster Mitte Mai entschieden. Die Richter haben angefangen, einen Berg an Klagen abzutragen, die das Land einen zweistelligen Millionenbetrag kosten könnten.

Der Arbeiter B. war damals bei einer lettischen Firma angestellt. Die hatte einen Vertrag mit einer Paderborner Großmetzgerei, die ihrerseits eine Betriebsstätte auf dem Betriebsgelände des Fleischkonzerns Tönnies unterhielt. Werkverträge waren damals in der Fleischindustrie noch erlaubt. Bereits im Mai hatte das Landesgesundheitsministerium einen Schlachthof der Firma Westfleisch im Kreis Coesfeld dichtgemacht, nachdem dort etliche Arbeiter positiv auf das Corona-Virus getestet worden waren, Mitte Juni schloss der Kreis Gütersloh den Tönnies-Schlachthof. Tausende Arbeiter wurden in die Zwangsquarantäne geschickt.

Laumann: „Ich habe keinen Bock, dass ich Herrn Tönnies irgendetwas überweise“

Mitte Juli 2020 hatten Fleischunternehmer Clemens Tönnies und die Subunternehmen angekündigt, die Lohnkosten der betroffenen Arbeiter vom Land auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes zurückzufordern, eine Forderung, die damals in der Politik parteiübergreifend auf scharfe Kritik gestoßen war. Insbesondere Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hatte mögliche Forderungen brüsk zurückgewiesen: „Ich habe keinen Bock, dass ich Herrn Tönnies oder den Subunternehmern irgendetwas überweise“, sagte er bei einer Pressekonferenz. Begründung des Landes: Die Unternehmen hätten gegen Corona-Auflagen verstoßen, seien somit verantwortlich für Corona-Ausbrüche und hätten deswegen keinen Anspruch auf Entschädigung.

Danach rollte eine Klageflut auf die beiden zuständigen Verwaltungsgerichte in Minden und Münster zu. Laut Landesgesundheitsministerium sind derzeit etwa 8900 Einzelklagen bekannt. Um die Dimension zu verdeutlichen: Laut Verfahrensbeteiligten umfasst jeder Fall eine Akte von 120 bis 140 Seiten. Das sind fast 1,2 Millionen Seiten. Die bisherigen fünf Urteile sind sämtlich im Sinne der Kläger ausgegangen: Bereits im Januar hatte das Verwaltungsgericht in Minden die Klage einer rumänischen Firma auf Entschädigung als rechtens beschieden.

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Besonders bitter für das Land: Zwar seien von der Firma nicht alle „Schutzmaßnahmen konsequent um- bzw. durchgesetzt“ worden, heißt es im Urteil, jedoch gebe es „keine hinreichend belastenden Anhaltspunkte für die Annahme eines weit überwiegenden Pflichtenverstoßes der Klägerin“. Heißt: Es gibt nach Ansicht der Mindener Richter keinen Hinweis darauf, dass das Subunternehmen derart gegen die Corona-Auflagen verstoßen hat, dass es keinen Anspruch auf Entschädigung hat.

Auch die Münsteraner Richter sahen keine „alleinige oder überwiegende Verantwortlichkeit“ der klagenden lettischen Firma und gaben ihr deswegen Recht. Für die Lohnfortzahlung des Arbeiter B. soll die Firma eine Entschädigung von 1150,73 Euro zuzüglich 736,36 Euro gezahlter Sozialabgaben erhalten, dazu einen fünfprozentigen Zinsaufschlag.

Das Land will trotzdem nicht klein beigeben. „Gegen die stattgebenden Urteile des Verwaltungsgerichts Minden wurden durch den Landschaftsverband Westfalen-Lippe Anträge auf Zulassung der Berufung zum Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen gestellt“, teilte ein Ministeriumssprecher auf NRZ-Anfrage mit. Bei den Münsteraner Verfahren liefen entsprechende Prüfungen. Die Schließung der Fleisch-Betriebe könnte die Gerichte noch viele Jahre beschäftigten.