Mülheim. Im Kampf gegen den Brustkrebs bieten Unternehmen Mitarbeiterinnen Seminare für die Selbstuntersuchung an. Eine Chance für blinde Tasterinnen.

Jede siebte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Je früher der Tumor erkannt wird, desto größer sind die Heilungschancen. Das Mülheimer Sozialunternehmen Discovering Hands hat Online-Seminare entwickelt, die Frauen im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsvorsorge Methoden der Selbstuntersuchung näherbringen soll. Ein Format, das vor allem auch in Pandemiezeiten funktioniert und blinden Frauen eine Beschäftigungsmöglichkeit bietet.

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Susann Kaumanns’ Traum war es, Krankenschwester zu werden. Doch ihre Erkrankung der Netzhaut verschlechterte ihr Sehvermögen immer mehr. „Es gibt Phasen, da sehe ich gar nichts mehr“, sagt die heute 43-Jährige. Sie entschied sich deshalb für ein sozialpädagogisches Studium und arbeitete in der Gesundheitsvorsorge. Bis Kaumanns vom Mülheimer Sozialunternehmen Discovering Hands hörte. Es bildet sehbehinderte und blinde Frauen zu Medizinisch-Taktilen Untersucherinnen (MTU) aus, die an der Seite von Gynäkologinnen und Gynäkologen winzige Tumore ertasten, die sehenden Medizinern, aber auch diagnostischen Geräten nicht auffallen.

Susann Kaumanns ist ausgebildete MTU.
Susann Kaumanns ist ausgebildete MTU. © discovering hands | discovering hands

„Mit dem Nachlassen der Sehkraft prägen sich andere Sinne des Menschen stärker aus, um sich orientieren zu können. Dazu gehört auch das Tasten“, erklärt Kaumanns und hat das auch am eigenen Körper gespürt. Die rund 60 MTUs sind bundesweit in Praxen niedergelassener Gynäkologinnen und Gynäkologen oder wie die 43-Jährige im Berliner Zentrum von Discovering Hands tätig. Im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsvorsorge bieten die Mülheimer auch Selbstertastungskurse für Frauen in Unternehmen an.

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„Die Nachfrage der Firmen war groß, teilweise auch aus Dax- und MDax-Unternehmen. Doch dann kam die Corona-Krise“, berichtet Arndt Helf, kaufmännischer Geschäftsführer bei Discovering Hands. Veranstaltungen in den Betrieben sind seit Frühjahr 2020 kaum noch möglich. „Mit Ausbruch der Pandemie mussten wir und die gesamte betriebliche Vorsorge-Branche auf digitale Angebote umstellen. In Präsenz funktionieren viele Kurse derzeit nicht. Der Bedarf in den Unternehmen ist aber natürlich da“, sagt Helf.

Online-Seminare in Corona-Zeiten

Susann Kaumanns gehört seither zum Team der Tasterinnen, die Anleitungen zur Selbstuntersuchung der Brust nun in Webinaren weitergeben. Die MTU sitzt vor Kamera und Mikrofon und die Mitarbeiterinnen der teilnehmenden Unternehmen vor ihren Laptops. Eine der Moderatorinnen der Online-Runden ist Kathrin Michel, die bei Discovering Hands für die Betreuung der Firmenkunden zuständig ist. Die 56-Jährige ist selbst mit der Krankheit in Berührung gekommen. „Bei mir wurde der Brustkrebs frühzeitig gefunden und konnte gut behandelt werden“, erzählt Michel. Sie will mit ihrer eigenen Geschichte, die gut ausgegangen ist, anderen Frauen einen Impuls zur Vorsorge geben. „Wir geben viel Raum für den Austausch. Denn jede Frau hat ihre eigenen Erfahrungen mit der Selbstuntersuchung. Wir wollen Mut machen, Ängste nehmen und Desinformation vorbeugen.“

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Die Mitarbeiterinnen von Discovering Hands zeigen sich zuversichtlich, dass die Akzeptanz für Selbstuntersuchungen wächst. „Es ist zu beobachten, dass gerade jüngere Frauen von den Webinaren profitieren, denn jede dritte Neuerkrankung betrifft eine Frau unter 50 Jahren“, meint MTU Kaumanns. Dabei profitiert das Sozialunternehmen offenbar auch davon, dass es Menschen mit und ohne Behinderung beschäftigt. „Inklusion macht in den Unternehmen neugierig. Unsere sehbehinderten Tasterinnen erhalten einen Vertrauensvorschuss. Es hat sich herumgesprochen, dass ihre Fähigkeiten Leben retten können“, sagt Kathrin Michel.

Innovationspreis für Discovering Hands

Der Bundesverband Betriebliches Gesundheitsmanagement hat Discovering Hands unlängst mit seinem Innovationspreis ausgezeichnet. Er soll nach Verbandsangaben „zukunftsorientierte und innovative Konzepte fördern, die vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der steigenden psychischen und physischen Anforderungen an die Arbeitnehmer, überzeugen“. Prämiert wurde konkret ein Vorsorge-Projekt für die Versicherungsgruppe Hanse Merkur. Webinar-Angebote aus Mülheim setzen aber auch namhafte Unternehmen wie Siemens, die Deutsche Post, Jenapharm und die Bochumer Verkehrsgesellschaft Bogestra um.

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Geschäftsführer Helf ist davon überzeugt, dass Selbstuntersuchungskurse nicht nur ein Beitrag zum Kampf gegen den Brustkrebs sind. „Unternehmen können vom Inklusionsaspekt unserer Leistungen profitieren, weil sie sich dadurch als sozial verantwortliche Arbeitgeber positionieren können und ihr Image im Wettbewerb um Fachkräfte verbessern können“, sagt der Manager von Discovering Hands. „Bislang haben sich Firmen für Präventionsmaßnahmen für Erkrankungen entschieden, die die meisten Fehlzeiten erzeugen. Rückenerkrankungen stehen da an der Spitze.“ Das ändere sich gerade. Denn Brustkrebs ist bei Frauen die häufigste Krebserkrankung.

>>> Sensibler Tastsinn

Aufgrund ihres besonders sensiblen Tastsinn können ausgebildete Medizinisch-Taktile Untersucherinnen etwa 30 Prozent mehr und bis zu 50 Prozent kleinere Gewebeveränderungen entdecken als Ärztinnen und Ärzte. Nach Angaben von Discovering Hands ertasten die blinden Frauen Tumore von sechs bis acht Millimeter Durchmesser. Medizinerinnen und Medizinern fallen dagegen erst Knoten ab einer Größe von ein oder zwei Zentimetern auf.

Die MTU untersucht die Brust in drei Ebenen und kann dem Arzt bei einem auffälligen Befund exakt mitteilen, wo er sich befindet. Die Diagnose kann nur er stellen.