Essen. Noch 37.000 Ausbildungsplätze sind landesweit unbesetzt – sogar im Ruhrgebiet mehr freie Stellen als Bewerbungen. Wo es die meisten Stellen gibt.

Aller Appelle zum Trotz droht vielen Betrieben ein weiteres verlorenes Ausbildungsjahr. Kurz vor dem klassischen Ausbildungsstart Anfang September sind in NRW noch 37.000 Lehrstellen unbesetzt. In einigen Branchen finden die Betriebe kaum noch Nachwuchs, in anderen tun sich die Jugendlichen schwer, einen Platz zu finden. Der Ausbildungsatlas NRW soll nun helfen, doch noch Jugendliche und Ausbildungsbetriebe zusammenzubringen. Zudem wird wie schon 2020 das Ausbildungsjahr verlängert.

Der Fachkräftemangel vor allem in einigen handwerklichen Berufen sowie in der Gastronomie und im Lebensmittelverkauf droht sich weiter zu verschärfen, weil aller Voraussicht nach erneut eine fünfstellige Zahl an Lehrstellen unbesetzt bleiben wird. Mehr Plätze als Bewerber gibt es landesweit seit einigen Jahren, erstmals gilt das nun auch für das Ruhrgebiet. Fehlten zwischen Duisburg und Dortmund bisher gegen den Landestrend jedes Jahr Ausbildungsplätze, stehen aktuell rechnerisch 100 Bewerberinnen und Bewerbern 103 Stellen zur Verfügung.

Das Ruhrgebiet hat insgesamt ein Passungsproblem

Insgesamt hat das Ruhrgebiet ein so genanntes „Passungsproblem“ – das heißt, bei dem eigentlich recht ausgewogenen Verhältnis von Stellen und Bewerbern passen oft die angebotenen Plätze der Betriebe und Wünsche der Jugendlichen nicht zusammen. Das ist in Corona-Zeiten besonders ausgeprägt, weil viele Infoveranstaltungen ausgefallen sind und es weniger Praktika gibt. „Die Pandemie hat es vielen Schülerinnen und Schülern erschwert, eine Antwort auf die Frage nach ihrer beruflichen Zukunft zu finden“, sagt Almuth Schlosser, Geschäftsführerin der Bundesagentur für Arbeit in NRW.

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Nach wie vor gibt es aber auch die bei Jugendlichen besonders beliebten Berufe, die sich vor Bewerbungen kaum retten können und entsprechend vielen absagen müssen. Für die Tausenden Jugendlichen, die keine Ausbildungsstelle in ihrem Wunschberuf als Kfz-Mechatroniker, Tierpflegerin, Tischler, Friseurin oder Immobilienkaufmann gefunden haben, lohnt ein Blick in den Ausbildungsatlas. Er zeigt, in welchen NRW-Regionen in welchen Berufen noch viele Plätze frei sind.

Gastronomen und Bäcker suchen besonders verzweifelt

Besonders dramatisch ist die Lage im Verkauf von Lebensmitteln, etwa in Metzgereien oder Bäckereien – hier gibt es aktuell nur noch eine Bewerbung auf mehr als sechs ausgeschriebene Lehrstellen. Was die Bundesagentur für Arbeit „extreme Besetzungsprobleme“ nennt, gilt auch in der Gastronomie. Die besonders von den Corona-Lockdowns betroffenen Restaurants und Cafés haben immense Schwierigkeiten, Nachwuchs zu finden – das gilt im Ruhrgebiet ebenso wie im ganzen Land. In der Hotellerie ist es im Ruhrgebiet nicht ganz so schlimm – „nur“ gut vier Stellen kommen hier auf eine Bewerbung.

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In diese Kategorie „sehr starke Besetzungsprobleme“ fallen auch die Reinigungsberufe sowie mehrere technische Metall-Ausbildungsberufe, etwa zum Feinwerkmechaniker, Präzisionswerkzeugmacher oder Oberflächenbeschichter. In der Metallerzeugung ist die Lage im Ruhrgebiet für die Betriebe etwas besser als im Rheinland und Südwestfalen, wo es kaum Bewerbungen gibt. Das gilt auch für den Metallbau und viele Elektro-Berufe. Berufskraftfahrer werden vom Ruhrgebiet bis ins südliche Westfalen zunehmend verzweifelt gesucht.

Chancen im Ruhrgebiet größer als in Südwestfalen

In den vielen Bauberufen herrscht bereits ein großer Nachwuchsmangel. Doch während etwa im Münsterland und Südwestfalen die Besetzungsprobleme bereits „extrem“ sind, also mehr als sechs freie Stellen auf einen unversorgten Bewerber kommen, sind es im Ruhrgebiet weniger als zwei. Auch im Revier hat das aber zur Konsequenz, dass auch in diesem Jahr die Speditionen für viele Lehrstellen niemanden finden werden.

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Den Corona-Effekt spüren auch Branchen, die bisher weniger Mühe hatten, ihre Lehrstellen zu besetzen. Das Interesse junger Menschen sei groß, betont etwa der Fachverband der Elektro- und Informationstechnischen Handwerke in NRW. Aber: „Leider ist durch Corona das ,Matching’ in Mitleidenschaft gezogen worden. Da die Ausbildungsbereitschaft bei den Betrieben sehr hoch ist, haben wir aktuell auch in unserer Branche noch eine Vielzahl an unbesetzten Ausbildungsplätzen“, sagt Christian Heil, Hauptgeschäftsführer des Verbands. Er wirbt dafür, im Zweifel die Betriebe einfach kurzerhand anzurufen, „bevor eine Bewerbung womöglich am Erstellen eines Anschreibens scheitert.“

Für Jugendlich steigen die Chancen

Aus Sicht der wenigen Bewerberinnen und Bewerber bedeuten die Probleme bei der Nachwuchssuche natürlich entsprechend große Chancen. Das betont auch die BA immer wieder, wenn sie bei den Jugendlichen darum wirbt, sich auch mal andere Berufe anzusehen. Denn: „Seit den 90er-Jahren waren die Chancen statistisch gesehen für die Bewerberinnen und Bewerber in Nordrhein-Westfalen auf einen Ausbildungsplatz nicht mehr so gut wie jetzt.“

Wie im vergangenen Jahr werden daher die Fristen für Bewerbungen und den Beginn der Ausbildung verlängert. „Am 1. September ist nicht Schluss. Viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber wollen trotz Corona den Nachwuchs für ihr Unternehmen sichern und noch in diesem Jahr ihre freien Ausbildungsplätze besetzen“, betont BA-Geschäftsführerin Schlosser. Viele Stellen seien erst im Juni oder Juli gemeldet worden, weitere kämen hinzu: „Es lohnt sich für alle Jugendlichen, die noch in diesem Jahr mit einer Ausbildung beginnen wollen, sich jetzt beraten zu lassen und sich zu bewerben.“

DGB fordert Ausbildungsgarantie wie in Österreich

Gerade im Ruhrgebiet erhalten aber auch viele Jugendliche mit weniger gutem Schulabschluss trotz vieler offener Stellen keinen Ausbildungsvertrag, weil die Betriebe sie für nicht geeignet halten. Deshalb fordert der DGB eine Ausbildungsgarantie wie in Österreich. „Jeder fünfte junge Mensch in NRW hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Das bedeutet fast immer den direkten Weg in die Langzeitarbeitslosigkeit“, warnt DGB-Landeschefin Anja Weber.

Sie sieht vor allem die Warteschleifen an den Berufsschulen kritisch: Das Übergangssystem, das in NRW unversorgten Jugendlichen dabei helfen soll, in Ausbildung zu kommen, sei alles andere als erfolgreich, sagt Weber. Meist bedeute es nur ein Hangeln von Maßnahme zu Maßnahme. In Österreich etwa bekämen Jugendliche, die nicht in eine betriebliche Ausbildung vermittelt werden konnten, eine trägergestützte Ausbildung für ein Jahr. Danach sollen die Jugendlichen in eine betriebliche Ausbildung wechseln. Die Landesverfassung sichere schon jetzt allen Jugendlichen die umfassende Möglichkeit zur Berufsausbildung und Berufsausübung zu. „Dieser Anspruch muss endlich in die Tat umgesetzt werden“, fordert Anja Weber.