Essen. Online-Lebensmittelkauf hat es in Deutschland schwer. Die Corona-Krise verhilft der Branche zum Durchbruch. Allein: Es gibt zu wenige Anbieter.

Warteschlangen vor den Supermärkten und Discountern, beschlagene Brillen unter den Masken und im Hinterkopf die Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus: Die Pandemie verändert das Einkaufsverhalten und bringt das in Deutschland stockende Onlinegeschäft mit Lebensmitteln in Fahrt – nachhaltig, wie Forscher voraussagen. Das Problem ist nur: Es gibt zu wenige Anbieter.

Als Frederic Knaudt vor nicht einmal zwei Jahren den niederländischen Online-Supermarkt Picnic über die Grenze nach NRW holte, ahnte er nicht, wie rasant die Expansion laufen würde. Corona, meint er, habe das Tempo noch einmal beschleunigt. „Von Beginn der Pandemie an hatten wir einen extrem starken Anstieg der Nachfrage. Unsere Neuanmeldungen haben sich verfünffacht. 80.000 Kunden stehen auf der Warteliste“, sagt Knaudt. Die Zahl der Bestellungen wachse wöchentlich um 17 Prozent.

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Der Mitgründer von Picnic in Deutschland reagiert auf den Boom mit Online-Lebensmitteln. Nachdem das Start-up vor einigen Wochen in Herne das zweite Logistikzentrum eröffnet hatte, soll demnächst ein drittes im südlichen Teil von Nordrhein-Westfalen folgen. „Wir stellen jede Woche 50 Mitarbeiter ein. Anfang des Jahres waren es zwölf. Ich rechne damit, dass wir unsere derzeit über 1000-köpfige Belegschaft bis Jahresende verdoppeln werden“, nennt Knaudt seine Ziele.

„Der Trend ist nicht mehr zu stoppen“

Der junge Manager denkt langfristig und glaubt ganz und gar nicht, dass der Trend zu gelieferten Lebensmitteln mit dem Ende der Pandemie wieder nachlassen werde. „Auch nach den Lockerungen bleibt die Quote der Neukunden, die erneut bei uns kaufen, extrem hoch. Wir gehen von einem nachhaltigen Effekt aus“, so Knaudt. Er legt sich fest: „Die Corona-Epidemie hat die absehbare Entwicklung des Onlinehandels für Lebensmittel um ein bis zwei Jahre nach vorn gezogen. Der Trend ist nicht mehr zu stoppen.“

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Bei dieser Prognose bekommt der Unternehmer Rückendeckung aus der Forschung. „Wir gehen von einem nachhaltigen Effekt durch Corona aus“, sagt Eva Stüber, Mitglied der Geschäftsleitung des Kölner Handelsinstituts IFH. „Der Einstieg in die Nutzung des Onlinehandels ist immer die größte Hürde. Wenn diese erstmal übersprungen ist, bleiben die Kundinnen und Kunden mit großer Wahrscheinlichkeit und bestellen dann auch immer häufiger im Zeitverlauf.“

Online-Umsatz bei Lebensmitteln wuchs im März um 55,8 Prozent

Bereits im Januar, also vor Ausbruch der Pandemie, hatte das IFH dem Online-Lebensmittelhandel einen Durchbruch vorausgesagt: Bis zum Jahr 2030 werde er einen Anteil zwischen fünf und neun Prozent am Gesamtmarkt für Nahrungsmittel und Getränke erreichen. Zuletzt hatte die Quote bei rund einem Prozent gelegen. Nach Zahlen des Bundesverbands E-Commerce lag das Wachstum bei online bestellten Lebensmittels im ersten Quartal 2020 bei 28,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Umsatz kletterte auf 361 Millionen Euro. Allein im Monat März, in dessen Mitte der Shutdown begann, betrug die Steigerung 55,8 Prozent. Zahlen für April will der Verband in der kommenden Woche vorlegen.

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„Corona wirkt als Beschleuniger“, stellt Handelsforscherin Stüber fest. „Das Gewohnheitsverhalten ist ausgehebelt. Konsumentinnen und Konsumenten müssen sich deshalb komplett neu orientieren.“ Der routinemäßige Einkauf am Samstagvormittag ist wegen der Sicherheitsvorkehrungen mit hohen Hürden behaftet. Aus Angst sich anzustecken, suchen die Menschen nach Alternativen – in Hofläden, aber vor allem auch bei Anbietern, die kontaktlos liefern.

Forscher: Zu wenige Online-Anbieter in Deutschland

Das IFH hat aber auch festgestellt, dass das Angebot im Netz hierzulande nicht gerade üppig ist. „In Deutschland gibt es einen Engpass bei den Onlineanbietern von Lebensmitteln. Nur 19 Prozent der Bevölkerung kann zwischen zwei oder mehr Händlern auswählen, die Vollsortiment anbieten und nach Hause liefern. Das ist zu wenig“, sagt Forscherin Stüber. Besonders abseits großer Städte sieht sie „noch sehr viel Potenzial“.

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Anbieter wie Amazonfresh, Bringmeister (Edeka), Rewe oder Mytime liefern nicht flächendeckend aus. Auch Picnic hat sich fokussiert – auf NRW. „Zunächst wollen wir aber das gesamte Ruhrgebiet erschließen“, sagt Mitgründer Knaudt. Bei seiner Expansionsstrategie hat das Start-up einen starken Partner an seiner Seite: Aus dem Logistikzentrum der Edeka Rhein-Ruhr in Moers kommt nicht nur ein Großteil der Waren. Der Lebensmittelriese hält auch einen Anteil von 35 Prozent an Picnic.

Um die hohe Nachfrage bedienen zu können, nutzt das Unternehmen die Ausnahmegenehmigung der Landesregierung und stellt mit seinen bunten Elektrofahrzeugen auch sonntags zu. Und Picnic testet in einem Pilotprojekt die Belieferung auch am Vormittag. „Das würde uns 30 Prozent mehr Kapazität verschaffen“, rechnet Knaudt. Bislang sind die Boten zwischen 14.30 und 22 Uhr unterwegs.

Auch wenn Picnic am Prinzip der Gratis-Zustellung festhalten will, hat der Anbieter den Mindestbestellwert von 25 auf 35 Euro pro Lieferung heraufgesetzt. „Es ist nicht sinnvoll, Luft zu fahren. Bei kleineren Bestellungen liegen oft nur ein oder zwei Produkte in der Lieferkiste“, meint der Mitgründer. Mit den angepassten Konditionen liege Picnic aber immer noch deutlich unter den Wettbewerbern, die mit einem Mindestbestellwert von 50 Euro arbeiten.

„Lieferdienst und Kauferlebnis schließen sich nicht aus“

Auch wenn das Onlinegeschäft derzeit boomt, bleibt Knaudt realistisch. „Lieferdienst und das Kauferlebnis im Laden schließen sich nicht aus“, sagt er. „Die Menschen kaufen zu 80 Prozent immer dieselben Artikel. Diese Grundnahrungsmittel will man nicht schleppen. Statistiker haben ausgerechnet, dass jeder Mensch in seinem Leben 20 Tage damit verbringt, um Lebensmittel einzukaufen. Der Unternehmer: „Lieferdienste sind da ein enormer Freizeitgewinn.“

Auch Handelsexpertin Stüber sieht eher eine Ergänzung als eine Verdrängung: „Der Online-Supermarkt kommt in den Einkaufsstätten-Mix aus Supermärkten, Discountern, SB-Warenhäusern, Bioläden und Co. hinzu.“ Die Konkurrenz wächst also.