Essen. Ruhrbischof Overbeck sagt, was die Corona-Krise mit den Menschen macht, warum Homeoffice zu Spannungen führt und die Seelsorge zu kurz kommt.
Die Gottesdienste fallen aus, die Menschen bleiben zu Hause – viele arbeiten daheim, viele aber auch unfreiwillig nicht, weil ihr Arbeitgeber seinen Laden zumachen musste. Was das mit den Menschen macht, welche Ängste uns bewegen und welche Hoffnung die Corona-Krise birgt, darüber sprach der Ruhrbischof und Sozialbischof Franz-Josef Overbeck im Interview mit unserer Zeitung.
Bischof Overbeck, was macht diese Krise mit den Menschen? Welche Ängste löst das Corona-Virus aus?
Franz-Josef Overbeck: Es sind zunächst vor allem Ängste um die eigene Gesundheit, um die Gesundheit der Familie und Freunde, aber auch um den Zusammenhalt der Gesellschaft. Außerdem steht dahinter für viele die neue Erfahrung, dass Globalisierung auch ihre Schattenseiten hat. Bislang hatte Globalisierung ja immer etwas sehr Verheißungsvolles: Die weltweite Vernetzung hat gerade uns in Deutschland viel Wohlstand gebracht. Nun wirkt es auf viele Menschen sehr verstörend, dass ein anderes, gegenläufiges Globalisierungs-Phänomen alles durcheinanderbringt. Das schürt schnell sehr handfeste Existenzsorgen. Je länger die Krise dauert, die ja gerade erst beginnt, desto schwerer werden es gerade kleine Unternehmen haben zu überleben. VW wird das länger durchhalten als ein Restaurant oder ein kleines Textilgeschäft.
Der gesellschaftliche Zusammenhalt gerät in Gefahr
Die Finanzkrise 2008/09 hatte wirtschaftlich ähnliche Dimensionen und löste Ängste um den Wohlstand aus. Bringt die nun zusätzliche gesundheitliche Gefahr eine neue Krisen-Dimension, die wir so noch nie hatten?
Overbeck: Ja, weil die Plausibilitäten andere sind. Damals hat die globale Logik der Finanzwirtschaft alles Vermögen zur Disposition gestellt. Jetzt sind auch die körperliche Integrität, der Geist und die Seele sowie der gesellschaftliche Zusammenhalt in Gefahr. Wenn wir dann auch noch sehen, dass Menschen an dem Virus sterben, ist das eine ganz andere Bedrohung. Dann rückt die Gefahr noch viel näher.
Viele Menschen arbeiten jetzt zu Hause, Eltern kümmern sich nebenbei um ihre Kinder. Ist das eine gute Lösung?
Overbeck: Zumindest wird diese Zeit für alle Beteiligten ausgesprochen anstrengend. Schon die Ferienzeit ist für viele Familien eine maximale Stresszeit, gerade, wenn sie keine Möglichkeiten haben, sich über den Balkon hinaus voneinander zu distanzieren. Das wird für viele jetzt eine sehr anspruchsvolle Zeit, auch weil sie unbestimmt lang ist. Dies gilt vor allem in unserer Region, wo so viele Menschen auf engstem Raum zusammenleben.
Fördert das enge Zusammenleben auch das Schlechte im Menschen? Befürchten Sie, dass es mehr Spannungen in den Familien bis hin zu Gewalt geben wird?
Overbeck: Ja, das ist zu befürchten. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger in unseren Pfarreien sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas und vor allem in der Telefonseelsorge stehen allen Menschen weiterhin mit Rat und Hilfe zur Verfügung – auch wenn mancher Kontakt nur per Telefon oder auf digitalen Wegen möglich sein wird.
„Homeoffice sollte nicht der Regelfall werden“
Sie wünschen sich also nicht, dass die Corona-Krise dem bisher seltenen Homeoffice zum Durchbruch verhilft?
Overbeck: Nein. Ich finde, für unsere Gesellschaft sollte Homeoffice nicht der Regelfall werden, weil ich den sozialen Charakter der Arbeit schätze. Das Miteinander ist sehr förderlich nicht nur für das Wohlbefinden der Beschäftigten, sondern auch für ihre Leistung. Man kann und sollte aber nach der Krise schauen, ob unter familienpolitischen Gesichtspunkten nicht mehr möglich ist als bisher gedacht. Dieses Thema nach vorne zu bringen, würde ich sehr begrüßen.
Wer kein Homeoffice machen kann und härter denn je arbeiten muss, sind die Ärzte und das Pflegepersonal in Kliniken und Praxen.
Overbeck: Ihnen gebührt mein höchster Respekt. Ich bete, dass alle die große Belastung in der aktuellen Situation durchhalten. Jetzt wird deutlich, wie sehr unsere Gesellschaft insbesondere auf gute Mediziner und engagiertes Pflegepersonal angewiesen ist. Diese Anerkennung muss auch nach der Corona-Krise weiter gelten.
Birgt diese Krise auch Chancen, etwa indem Menschen sich in der Nachbarschaft helfen und für die Älteren mit einkaufen?
Overbeck: Ich finde die vielen Initiativen, die derzeit in unseren Kirchengemeinden und darüber hinaus entstehen und sichtbar werden, ganz wunderbar – schließlich gibt es sehr viele alte, behinderte und hilfsbedürftige Menschen, die jetzt Unterstützung brauchen. Angesichts der Dramatik der Krise wünsche ich mir, dass da noch mehr Engagement wächst und dass unsere Gesellschaft auch noch nach der Krise davon profitiert.
Sie befürchten, dass die neue Solidarität der Krise geschuldet ist und mit ihr wieder verschwindet?
Overbeck: Die Krise wird ein doppeltes Gesicht zeigen – für viele wird sie sehr belastend sein, aber sie wird auch positive Erfahrungen mit sich bringen.
Abends sehen die Leute im Fernsehen, dass in Italien alte Menschen in Zelten allein sterben müssen. Schürt das Urängste, die alles andere überlagern?
Overbeck: Keine Frage: Eine solche Situation erschüttert die Grundfesten des menschlichen Lebens. Da steht die persönliche Gesundheit und die der Liebsten ganz oben, aber auch das gewohnte soziale Miteinander.
Ältere erinnert das an den Krieg
Warum reagieren ältere Menschen empfindlicher auf diese Krise als die Jüngeren?
Overbeck: Sie sind zum einen selbstverständlich nachdenklicher, zum anderen sind sie durch das Virus aber auch konkreter bedroht. Die ganz alten Menschen sagen mir, dass Erinnerungen hochkommen an den Zweiten Weltkrieg, etwa wenn es um die Frage der Versorgung mit Lebensmitteln geht. Die äußere Bedrohungslage war natürlich eine ganz andere, aber die Menschen fühlen eine ähnlich starke innere Bedrohung. Das Tückische ist jetzt, dass man das Virus nicht sehen kann. Die Bomben konnte man hören und ihre Folgen sofort sehen. Bei den Jüngeren habe ich den Eindruck, dass sie erst jetzt merken, wie ernst die Bedrohungslage ist. Bei dem schönen Wetter war am Baldeneysee zuletzt noch der sprichwörtliche Teufel los. Aber nun wird es stiller. Ich sitze hier im Bischofshaus ja mitten in der Innenstadt, und hier ist es jetzt ruhiger als an jedem Karfreitag und an jedem Totensonntag. Es ist so, als fiele das Leben in sich zusammen.
Sind angesichts der Panik vor den möglichen Ausmaßen apokalyptische Befürchtungen übertrieben?
Overbeck: Die biblische Apokalypse ist die Auflösung aller Grundordnungen. Damit würde ich die Corona-Pandemie sicher nicht vergleichen. Ich komme mir eher vor, wie bei den ägyptischen Plagen im Alten Testament, die in mehreren Wellen Naturereignisse beschreiben, welche die ganze Bevölkerung treffen, etwa der vergiftete Nil, die Heuschreckenplage, das symbolische Sterben der Erstgeborenen. Will man ein biblisches Bild bemühen, dann dieses. Ich wäre damit aber vorsichtig, weil gerade jetzt aus der rechten Front der Gläubigen Töne kommen, dass Gott uns straft, weil wir so leben. Das ist zynisch, das geht gar nicht. Das dürfen wir nicht glauben.
Gottesdienste finden nicht mehr statt, Seelsorge nur noch übers Telefon – können Sie ihre Aufgaben als Kirche noch so wahrnehmen wie es nötig wäre?
Overbeck: Wir können sicher vieles nicht mehr tun, was gerade jetzt wichtig wäre: zum Beispiel Leute besuchen, gemeinsam Gottesdienst feiern und Gemeinschaft bieten für einsame Menschen. Dieser Ausnahmezustand macht vieles unmöglich. Unsere Gottesdienste sind das Zentrum unserer Gemeinden. Beten kann man alleine, aber der soziale Wert entfällt derzeit. Von Kinder- und Altenbetreuung bis hin zur Begleitung von Sterbenden und Seelsorge für Trauernde geht ganz vieles nicht mehr in gewohnter Weise. Die Kirche gerät an ihre Grenzen. Doch ich sehe auch, wie viele Seelsorgerinnen und Seelsorger und ganz viele Ehrenamtliche in unseren Gemeinden kreative Lösungen entwickeln, um mit dieser Situation umzugehen.
„Wir sehen jetzt, auf welch dünnem Eis wir leben“
Was wünschen Sie sich von den Menschen als Reaktion auf diese Krise?
Wir alle sollten aus dieser Krise lernen, in Zukunft bewusster zu leben. Das hat für mich als Christ viel mit Gottvertrauen zu tun und ist die andere Seite der Medaille. Damit einher geht der Wunsch nach mehr Respekt vor der Natur, einem solidarischen Leben in einer globalisierten Welt, in der es nicht immer nur um Ausbeutung gehen darf. Wir sehen ja jetzt plötzlich sehr deutlich, auf welch dünnem Eis wir leben.