Essen. IGBCE-Chef Vassiliadis beklagt die Windkraft-Misere und den mangelnden Einfluss der Gewerkschaften. Im Interview kritisiert er grüne Arbeitgeber.

Der Bergbau geht, die Energiewirtschaft erfindet sich neu, die Chemie steckt mit Bayer in der Krise – Grund genug für die IGBCE, über ihre Zukunft nachzudenken. Das tut sie derzeit auf einem mehrtägigen Kongress in Essen. Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis spricht im Interview über Mitgliederschwund, den Kapitalismus der Ökostrombranche und blickt nach vorn.

Herr Herr Vassiliadis, Sie diskutieren auf ihrem Zukunftskongress in Essen über die künftige Ausrichtung Ihrer Gewerkschaft. Weil Sie sich so große Sorgen um die IG BCE machen?

Vassiliadis: Ich mache mir Gedanken über die Zukunft der Industrie in Deutschland – und damit auch der IG BCE. Digitalisierung und klimabedingte Herausforderungen werden die Industrie enorm verändern. Keine Gewerkschaft weiß so gut, was politisch gewollte Transformation bedeutet, wie die IG BCE. Wir haben das in der Grundstoffindustrie und im Bergbau sozial abfedern können, aber natürlich trotzdem Mitglieder verloren. Auch in der industriellen Transformation der Zukunft wollen wir keine Trauer tragen, sondern ein positives Verhältnis zu ihr entwickeln. Nur so können wir sie mitgestalten.

Die Digitalisierung bedroht Arbeitsplätze, die Alterung der Gesellschaft senkt die Zahl der Erwerbspersonen. Kostet Sie das noch mehr Mitglieder?

Vassiliadis: Natürlich trifft auch uns die demografische Entwicklung. Wir werben zwar recht erfolgreich um Jugendliche, organisieren von ihnen 70 Prozent. Schwer tun wir uns, die Höherqualifizierten zu erreichen. Die steigen nach der Uni in den Unternehmen auf Ebenen ein, wo wir bisher nicht gut vertreten sind. Das müssen wir ändern, aber selbst dann sind die Jüngeren und die Höherqualifizierten zusammen weniger als die Älteren, die nach und nach ausscheiden. Die Digitalisierung trifft vor allem die kaufmännischen Bereiche, in denen wir ebenfalls noch nicht so gut organisiert sind. Diesen Beschäftigten müssen wir klarmachen, dass sie uns jetzt brauchen.

Sie verlieren den Bergbau, teilen sich die Energiewirtschaft mit Verdi und IG Metall. Schrumpft die IG BCE zur reinen Chemiegewerkschaft?

Vassiliadis: Nein. Es gibt auch keinen Grund, das „B“ zu streichen, einiges an Bergbau haben wir ja noch. In der Energie sehe ich als größtes Problem, dass wir als Gewerkschaften bei den erneuerbaren Energien insgesamt nicht gut unterwegs sind. Die Unternehmen im Bereich der grünen Energien sind leider kein Stück bessere Kapitalisten als andere. Dass sie an guten Tarifverträgen interessiert wären, kann ich jedenfalls nicht feststellen. Die reden lieber mit der Politik, die Subventionen organisiert, als mit uns über Krisenprävention. Deshalb müssen alle Gewerkschaften zusammen schauen, wie wir in diesem subventionierten Wachstumsbereich mehr Mitglieder gewinnen. Übrigens: Wir stehen ja nicht nur für Bergbau, Chemie, Energie, sondern auch für Branchen wie Kunststoff, Pharma, Keramik, Papier und weitere Hochleistungswerkstoffe.

Das RWE-Braunkohlekraftwerk Neurath, in dessen Nähe auch Windräder stehen.
Das RWE-Braunkohlekraftwerk Neurath, in dessen Nähe auch Windräder stehen. © dpa | Oliver Berg

Die Debatten um den Kohleausstieg haben die vergangenen Monate geprägt. Die IGBCE wurde wahrgenommen als die Vertreterin einer sterbenden Industrie von gestern. Hat das Ihr Image beschädigt?

Vassiliadis: Die Auseinandersetzungen in der Braunkohle mit all ihren Skandalisierungen und Überhöhungen durch viele Umweltaktivisten hat sehr viel Kraft gekostet. Wir haben intensiven Druck auf die Politik ausgeübt mit der Frage, was denn im Gegenzug Neues kommt, wenn wir Atom-, Braun- und Steinkohlekraftwerke abschalten. Wir hinken bei den Erneuerbaren und den Netzen hinterher. Und nur weil wir uns für unsere Mitglieder im Bergbau einsetzen, sind wir doch nicht irre. Was dabei aber auf der Strecke blieb, ist die Breite und Ausgewogenheit unserer Gewerkschaft und unserer Positionen. Das wollen wir ändern.

In Datteln soll nun das riesige Steinkohlekraftwerk doch ans Netz gehen. Das widerspricht dem Wunsch der Kommission, auch ihrem?

Vassiliadis: Natürlich stellt sich die Frage, ob es in die Zeit passt, ein so großes Kraftwerk noch ans Netz zu lassen. Andererseits ist es das modernste Kohlekraftwerk, das deutlich klimafreundlicher produziert als die älteren. Letztlich ist es eine Frage des energiepolitischen Konzepts: Wer etwa noch schneller als bisher geplant aus der Braunkohle aussteigen will, braucht womöglich ein Kraftwerk wie Datteln 4. Wir brauchen einen Fahrplan, der alles zusammen denkt.

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Mit Datteln soll das größte Kohlekraftwerk Deutschlands ans Netz gehen, gleichzeitig rutscht die Windenergiebranche immer tiefer in die Krise. Erleben wir gerade eine Energiewende verkehrt?

Vassiliadis: Diese Absurdität entsteht durch die wenig konzeptionelle Vorgehensweise in der Energiepolitik. Die Windkraft zu deckeln, halte ich für einen großen Fehler. Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, 65 Prozent des Stroms bis 2030 aus Erneuerbaren zu gewinnen, doch beim Ausbau der Erneuerbaren läuft es derzeit maximal kontraproduktiv. Wenn wir nicht den Ausbau der Netze, des Ökostroms und der Ersatz-Gaskraftwerke enorm beschleunigen, bekommen wir Mitte der 2020er Jahre ein Problem bei der Versorgungssicherheit.

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Die Chemieindustrie bleibt Ihre größte Branche, hat aber ebenfalls Probleme. Bayer steckt seit der Monsanto-Übernahme mindestens in einer Imagekrise, Evonik baut gerade 1000 Arbeitsplätze ab.

Vassiliadis: Wir erleben eine weltweite Neuordnung in der Chemie. Die Amerikaner sind sehr aktiv, die Chinesen kaufen Know-how ein. In Deutschland müssen wir aufpassen, das Umfeld für Innovationen und Forschung wieder zu verbessern. Die Biotechnologie haben wir in Teilen schon vertrieben. Umso dringender brauchen wir eine Debatte über die Akzeptanz neuer Werkstoffe und Mittel etwa im Bereich der Nanotechnologie, beim Pflanzenschutz und bei den Kunststoffen. Letztere brauchen wir übrigens auch für den Klimaschutz – von allein werden die Autos nicht sparsamer.

Ihr Zukunftskongress heißt „Perspektiven 2030+“. Wo wollen Sie bis dahin mit der IG BCE hin?

Vassiliadis: Wir spielen verschiedene Szenarien durch, wo Gesellschaft und Industrie 2030 stehen könnten, um auf die vielen Unsicherheiten vorbereitet zu sein. Das würde ich mir häufiger auch von der Politik wünschen, denn die klaren Prognosen gibt es nicht mehr. Als IG BCE wollen wir zudem eine Debatte darüber anstoßen, welchen Wert wir als Gewerkschaft in der Gesellschaft haben, ob die Leute überhaupt mitkriegen, was wir so machen. Ich denke, wir sollten als Gewerkschaften lauter und stärker zusammen auftreten – und so auch unsere Dachmarke DGB in der öffentlichen Wahrnehmung stärken. Bei allem Stolz auf die eigene Organisation ist es keine Zeit für Eitelkeiten und Alleingänge.