Essen. Durch Tests könnten viele Antibiotika-Rezepte und Resistenzen vermieden werden. Das zeigen die Ergebnisse eines BKK-Pilotprojekts im Ruhrgebiet.
Es darf auch ein bisschen weniger sein: Bei Infekten verschreiben Ärzte in Deutschland seltener Antibiotika als in den meisten anderen Ländern – aber immer noch häufig ohne zu wissen, ob sie überhaupt wirken. Das fördert die Bildung resistenter Keime, die deutlich schwerer bis gar nicht mehr zu bekämpfen sind. Davon zeugen 2363 registrierte Todesfälle durch multiresistente Keimen in Deutschland allein im Jahr 2015. Diese Zahl nennt die Europäische Seuchenbehörde ECDC in ihrem jüngsten Bericht. Europaweit gab es 33.100 Todesfälle nach nicht mehr behandelbaren Infektionen.
Ein zweijähriges Modellprojekt des BKK Landesverbands Nordwest und der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein hat nun gezeigt: Ärzte, die ihre Patienten zuerst auf den Krankheitserreger testen, greifen deutlich seltener zum Rezeptblock, weil sie in vielen Fällen wissen, dass Antibiotika nichts bringen und damit nur unnötig Resistenzen fördern würden. Das Verschreibungsverhalten der an dem Projekt teilnehmenden Ärzte hat sich im Laufe der beiden Jahre verändert: Sie haben insgesamt rund ein Fünftel weniger Antibiotika verschrieben als nicht teilnehmende Ärzte, bei Blasenentzündungen sogar nur etwa halb so oft. Die geringe Bereitschaft zur Teilnahme an dem Projekt zeigt aber auch, dass es in vielen Praxen offenbar noch an einer Sensibilisierung für dieses Thema mangelt.
Die sorgloseste Umgang in Südeuropa
Beim Verschreiben von Antibiotika sind die Ärzte in Deutschland insgesamt sparsamer als in den meisten anderen Ländern Europas, aber immer noch freigebiger als ihre Kollegen in den Niederlanden, Schweden, Österreich oder auf den Baltikum. Deutlich häufiger werden Antibiotika in Südeuropa verschrieben. Dabei legen die Daten der Seuchenbehörde ECDC einen direkten Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Antibiotika-Einsatzes und der Bildung von Keimen nahe, die gegen diese Mittel gefeit sind. So liegen Länder wie Italien, Griechenland, Frankreich und Portugal, in denen besonders viele Antibiotika verschrieben werden, auch bei der Verbreitung resistenter Bakterien weit vorne.
Doch nicht nur zwischen den Ländern unterscheidet sich der Umgang mit Antibiotika teils deutlich, sondern selbst zwischen den einzelnen Praxen im Ruhrgebiet, wie das Modellprojekt in den Regionen Essen und Duisburg gezeigt hat. KV Nordrhein und BKK Landesverband boten Haus- und Fachärzten an, gegen eine Aufwandsentschädigung bei bestimmten Diagnosen Antibiotika nur noch dann zu verschreiben, wenn sie nachweislich geeignet sind. Dafür wurden Schnelltests vor allem bei Mandelentzündungen und Labortests etwa bei Blasenentzündungen durchgeführt. Nur knapp acht Prozent der Ärzte machten mit, sie führten letztlich fast die Hälfte (44 Prozent) aller Tests in der Region Essen/Duisburg durch.
Dabei erwies sich besonders der Schnelltest auf Streptokokken als sehr effizient: Zehn Minuten dauert es, bis ein Rachenabstrich analysiert ist. Weil sich in vielen Fällen zeigte, dass Viren statt Bakterien für die Entzündung verantwortlich waren, wurden bei Entzündungen im Hals-Rachen-Raum deutlich seltener Antibiotika verschrieben: Vor Beginn der Versuchs erhielten noch drei von vier Patienten (74 Prozent) mit dieser Diagnose ein entsprechendes Rezept, danach nur noch gut die Hälfte (57 Prozent). Bei Scharlach und Mandelentzündungen sank der Einsatz von Antibiotika um ein Fünftel.
Durch Vorabtests wurde nicht nur weniger, sondern auch gezielter verschrieben. So setzten teilnehmende Ärzte bei entzündeten Wunden deutlich seltener Breitbandantibiotika und stattdessen häufiger Penicilline ein. Auch dies ist eine von Experten gewünschte Umstellung, weil weniger Resistenzen entstehen.
Die größten Unterschiede gibt es bei der Behandlung von Blasenentzündungen. So verschrieben Ärzte, die nicht an dem Projekt teilnahmen, fast immer (92 Prozent) ein Antibiotikum, die teilnehmenden Hausärzte und Urologen nicht mal mehr in jedem zweiten Fall (49 Prozent). Allerdings schlug hier besonders zu Buche, dass vor allem Ärzte, die auch vorher schon sparsamer mit Antibiotika umgegangen sind, an dem Projekt teilnahmen.
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Die Organisatoren bedauern das: „Die Ergebnisse zeigen, dass wir vor allem diejenigen erreicht haben, die bereits für das Thema sensibilisiert sind. Wir brauchen daher eine Richtlinie, die verbindlich für alle regelt, wann Antibiotika eingesetzt werden, damit uns Reserveantibiotika als Ultima Ratio erhalten bleiben“, sagt Dirk Janssen, Vizechef des BKK Landesverbands Nordwest, der 21 Betriebskrankenkassen mit drei Millionen Versicherten vertritt. KV Nordrhein-Vorsitzender Frank Bergmann pflichtet bei: „Wir müssen noch mehr Kolleginnen und Kollegen dafür sensibilisieren, dass weniger manchmal mehr sein kann, also der Einsatz von Antibiotika genau bedacht und geprüft sein will.“
Patienten fordern oft Antibiotika-Rezept
Wichtig sei es aber auch, die Patienten besser zu informieren, „damit sie nicht immer und sofort die Gabe von Antibiotika erwarten“, rät Bergmann, die die niedergelassenen Ärzte am Nordrhein vertritt. Denn oft sei es nicht der Arzt, der sofort Antibiotika verschreibe, sondern der Patient, der ein Rezept erwarte. Der Grund ist einfach: Die Bakterienkiller bringen sehr schnell Besserung – wenn sie denn wirken. Und im zweifel wollen die wenigsten zwei Tage auf ein Biogramm-Ergebnis warten. Schließlich lassen sich viele Keime noch nicht per Schnelltest, sondern nur im Labor auf ihre Empfindlichkeit testen. Umgekehrt gaben die Ärzte an, durch die Vorab-Tests auf eine viel größere Akzeptanz bei ihren Patienten zu stoßen, wenn sie das gewünschte Antibiotika-Rezept nicht ausstellen.
BKK-Manager Janssen leitet aus dem Modellversuch Forderungen an die Bundesregierung ab: „Wir werden uns jetzt an die Politik wenden, damit diese verbindliche Regelungen schafft, bei welcher Erkrankung welcher Test verbindlich eingeführt wird. Zum Beispiel: Bei Wund- und Harnwegsinfektionen müssten Antibiogramme Pflicht werden. Bei Rachenentzündungen ein Antigen-Schnelltest“, sagte er unserer Redaktion.