Essen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband bescheinigt Deutschland, es spalte Arm und Reich so stark wie nie. Seine These, dass die Spanne zwischen Arm und Reich trotzdem „noch nie größer“ gewesen sei, stützt sich im Wesentlichen auf die sogenannte „Armutsquote“. Ein Faktencheck.
Mitten hinein in die Flut guter Nachrichten von Aufschwung, sinkender Arbeitslosigkeit und Rekordbeschäftigung hat der Paritätische Wohlfahrtsverband vergangene Woche einen Kontrapunkt gesetzt: Die soziale Spaltung in Deutschland habe „deutlich zugenommen“, schrieb der Verband in seinem „Gutachten zur sozialen Lage in Deutschland“, immer größer werde die Kluft zwischen Arm und Reich. Es ist ein Befund, der zu Beginn dieses Jahrhunderts durch viele Studien belegt wurde. Aber stimmt der Trend immer noch, geht die Schere wirklich noch weiter auseinander? Ein Faktencheck:
Vorweg: Auch der Paritätische druckt in seinem Bericht Tabellen, die sinkende Arbeitslosigkeit und steigende Beschäftigung ausweisen. Seine These, dass die Spanne zwischen Arm und Reich trotzdem „noch nie größer“ gewesen sei, stützt sich im Wesentlichen auf die sogenannte „Armutsquote“. 15,2 Prozent der Menschen in Deutschland galten 2012 als „armutsgefährdet“, diese Quote stieg zuletzt an, 2009 lag sie bei 14,6 Prozent. Ihre Aussagekraft ist unter Wissenschaftlern aber umstritten.
Als „armutsgefährdet“ gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in seinem Land verdient. Gemessen wird die Armut also nicht daran, ob das Einkommen für ein menschenwürdiges Leben ausreicht, sondern am Einkommen der Mitbürger. Die Kritik an diesem relativen Armutsbegriff: Steigen die Einkommen etwa in einem Aufschwung stark an, zieht das auch den Mittelwert hoch – mit der Folge, dass mehr Menschen als arm gelten, auch wenn sie selbst etwas mehr Geld zur Verfügung haben. Sinken in einer Krise die mittleren Einkommen, gelten viele Menschen plötzlich nicht mehr als arm, obwohl es ihnen durch den Einkommensverlust der anderen sicher nicht besser geht. So stiegen 2010 die Gehälter kaum, weil die meisten Tarifabschlüsse aus dem Krisenjahr 2009 fortwirkten, die Armutsquote sank aber von 14,6 auf 14,5 Prozent.
Armutsgrenze zieht der deutsche Staat mit seiner Grundsicherung
Der reine Vergleich von Einkünften ist zur Armutsmessung auch deshalb umstritten, weil er nicht das Preisniveau und die Teuerung im jeweiligen Land berücksichtigt. So hat die Slowakei, eines der ärmsten Länder Europas, eine deutlich niedrigere „Armutsquote“ als Deutschland. Das liegt daran, dass dort eine kleine Wirtschaftselite viel, rund zwei Drittel der Erwerbstätigen aber sehr wenig verdienen, was den mittleren Einkommenswert senkt. Entsprechend wenige gelten amtlich als arm, im Leben sind sie es wegen vergleichsweise hoher Preise aber sehr wohl.
Eine eigene Armutsgrenze zieht der deutsche Staat mit seiner Grundsicherung – für Arbeitslose, deren Kinder, arme Rentner, Schwerbehinderte und Asylbewerber. Die Zahl der Empfänger hat in den vergangenen Jahren nicht zu-, sondern abgenommen – um eine knappe Million auf 7,2 Millionen Menschen. Die Zahl der Unter-15-Jährigen, die Sozialgeld erhalten, ist seit 2006 um rund 250 000 auf 1,7 Millionen gesunken. Gestiegen ist dagegen die Zahl der Rentner, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind – seit 2006 um 90 000 auf 464 000.
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Recht hat der Paritätische mit seiner Kritik, dass trotz des Aufschwungs unverändert rund eine Million Menschen langzeitarbeitslos sind. Nicht recht hat er mit der Aussage, es gebe einen „deutlichen Trend“ zu weniger Vollzeitbeschäftigung und mehr „atypischen“ Jobs, also Teilzeit, Zeitarbeit und Minijobs. Diesen Trend gab es eindeutig, er flaut aber seit 2006 ab und hat sich 2012 umgekehrt. Die Zahl der atypisch Beschäftigten sank um 146 000, die Zahl der Vollzeitjobs stieg um gut eine halbe Million.
Vergleich der oberen und unteren Einkommen
Für die Frage, ob nun die Schere weiter aufgeht, braucht es noch den Vergleich der oberen und unteren Einkommen. Der Paritätische belegt eine große Ungleichgewichtung der Vermögen, aber nicht der Einkommen, zudem liefert er keine Vergleichszahlen zu früheren Jahren. Das Statistische Bundesamt vergleicht das obere Einkommensfünftel mit dem unteren. 2008 hat das obere knapp fünfmal (4,8) mehr verdient als das untere. Dieser Faktor ist seitdem kontinuierlich gesunken, auf 4,3 im Jahr 2012. Alternativ wird noch der Gini-Koeffizient angegeben, der die Einkommensverteilung beschreibt – von null (alle Einkommen sind gleich) bis 100 (einer verdient alles, alle anderen nichts). Er sank im selben Zeitraum von 30,2 auf 28,3.
Fazit: Ja, an vielen Menschen, insbesondere Langzeitarbeitslosen, geht der Aufschwung vorbei. Ja, mehr Rentner brauchen staatliche Hilfe. Und ja, es gibt eine große Einkommenskluft in Deutschland. Aber nein, die Schere zwischen Arm und Reich ist nicht noch weiter auseinander gegangen. Absolutismen wie „immer mehr“ und „noch nie so viele“ sind eher als mediale Verstärker zu verstehen denn als Spiegel der Statistiken.