Berlin. . Der Internationale Währungsfonds schätzt die Wahrscheinlichkeit einer Deflation in Europa auf 20 Prozent. Wie sich die Ukraine-Krise wirtschaftlich auf die Eurozone auswirken wird, ist noch völlig offen. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung spricht im Interview über die Gefahren.

Über die Gefahr sinkender Preise in Europa und die Folgen der Krim-Krise sprach Hannes Koch mit dem Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher.

In Euroland steigen die Preise noch – zuletzt um 0,8 Prozent. Trotzdem wird viel über die Gefahr der Deflation – sinkende Preise – geredet. Sehen Sie dieses Risiko ebenfalls?

Marcel Fratzscher: In einigen Eurostaaten – Italien, Frankreich, Spanien und Griechenland – gehen bereits jetzt die Preise für knapp ein Drittel der verkauften Güter und Dienstleistungen zurück. Beispielsweise werden dort Mieten, Textilien oder Lebensmittel billiger. Würde sich die Deflation durchsetzen, kann sie sehr hohe Kosten verursachen.

Warum sind Preisrückgänge auf breiter Front gefährlich?

Fratzscher: Wenn sich solche Erwartungen bei den Verbrauchern verstetigen, tendieren diese dazu, ihre Einkäufe zu verschieben. Morgen bekommen sie das Auto ja vielleicht billiger als heute. Die Nachfrage geht zurück. Deshalb sehen auch Unternehmen weniger Anlass zu investieren. Das Wachstum sinkt, und es kann eine Abwärtsspirale in die Rezession entstehen. Japan war in den 1990er und 2000er Jahren in einer solchen Situation. Herauszukommen gelingt dann oft nur zu einem enormen Preis, etwa indem sich der Staat massiv verschuldet.

Aus Verbrauchersicht haben sinkende Preise Vorteile. Sind sie nicht auch ein Ergebnis sinnvoller ökonomischer Prozesse?

Fratzscher: Natürlich müssen manche Preise zurückgehen. Laptops und Smartphones werden auch deshalb billiger, weil die Produktivität der Herstellung steigt. Problematisch wird es allerdings, wenn der Rückgang auf Güter und Dienstleistungen übergreift, bei denen das nicht der Fall ist.

Für wie groß halten Sie die Deflationsgefahr in Europa?

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Fratzscher: Der Internationale Währungsfonds schätzt die Wahrscheinlichkeit auf 20 Prozent. Das stellt ein erhebliches Risiko dar. Stellen Sie sich vor, Sie wüssten, dass Sie zu zwanzigprozentiger Wahrscheinlichkeit einen Unfall mit ihrem Auto bauen. Sie würden Ihren Wagen wohl stehenlassen. So müssen auch die Europäische Zentralbank und die Regierungen jetzt ziemlich aufpassen. Ich nehme aber an, dass die Deflation abgewendet und die Inflation in einigen Jahren wieder auf Normalwerte von 1,5 bis zwei Prozent anziehen wird.

Was sollte die EZB nun tun?

Fratzscher: Die Europäische Zentralbank wird ernsthaft darüber nachdenken, welche Optionen sie nutzen kann. So wäre es möglich, den Leitzins von jetzt 0,25 Prozent noch einmal zu senken. Sie könnte auch negative Einlagezinsen für das Kapital festsetzen, das die Geschäftsbanken bei ihr hinterlegen. Wenn die Institute mit diesen Einlagen keinen Gewinn, sondern Verlust machen, erhöht das ihre Motivation, den Privathaushalten und Unternehmen mehr Kredite zu geben.

Eine weitere Möglichkeit der EZB: Sie kann den Banken große Mengen Geldes zu günstigen Bedingungen anbieten – in der Hoffnung, dass durch das größere Angebot das Wachstum anzieht und die Preise steigen. Und die Zentralbank könnte direkt private und öffentliche Anleihen vom Markt aufkaufen, um so die Finanzierungsbedingungen zu verbessern und die Fragmentierung zu reduzieren.

Nun kommt die Ukraine-Krise dazu. Sanktionen gegen Russland könnten den Handel mit Osteuropa stören. Erhöht das die Dringlichkeit, dass die EZB die Wirtschaft stützt?

Fratzscher: Es ist noch völlig offen, wie sich die Ukraine-Krise wirtschaftlich auf die Eurozone auswirken wird, aber die Risiken sind groß. Die EZB wäre in der Tat in der Pflicht, wenn diese Krise die Finanzstabilität der Eurozone gefährden sollte.