Detroit. Das frühere Zentrum der amerikanischen Autoindustrie ist nicht nur finanziell am Ende. Die Wirtschaft ist am Boden, tausende Gebäude stehen leer, die Bevölkerung hat sich um zwei Drittel reduziert - der Schuldenberg ist auf 20 Milliarden Dollar angewachsen. Die Pleite der Großstadt ist ein Fanal.

Als Kevin Orr seine Notfall-Mission im Frühjahr antrat, setzte der Insolvenzfachmann zuversichtlich auf die beiden Leitsprüche, die seit über 200 Jahren das Stadtsiegel von Detroit zieren: Speramus meliora und Resurget Cineribus - „Wir hoffen auf Besseres“ und „Aus der Asche möge sie auferstehen“. Inzwischen ist die Hoffnung in der einst prosperierenden Industrie-Metropole zwischen dem Sankt-Clair-See und dem Eriesee an der Grenze zu Kanada verschwunden. Als erste Großstadt in Amerika hat die frühere Heimat der Autoriesen General Motors, Chrysler und Ford offiziell Bankrott angemeldet.

Orr war es nicht gelungen, die 100.000 Gläubiger zu einem Verzicht auf einen Großteil ihrer Forderungen und die Gewerkschaften zum Lohnverzicht zu bewegen und so die gigantischen Schulden von rund 20 Milliarden Dollar abzubauen. Ab sofort haben Richter nach Kapitel 9 des Insolvenzrechts das Sagen. „Die Abwicklung der Pleite kann Monate bis Jahre dauern“, sagte Bürgermeister David Bing bei einer Pressekonferenz. Die größte Sorge vieler: Sind die milliardenschweren Pensions- und Krankenversicherungsansprüche der Beamtenschaft wirklich unkürzbar, wie es in der Verfassung des Bundesstaates Michigan steht? Wenn nicht, schreiben Kommentatoren in der „Detroit Free Press“, seien Unruhen nicht auszuschließen.

Der Niedergang zieht sich schon geraume Zeit hin

Der Niedergang kam nicht nicht über Nacht. Die Autoindustrie hat die nach dem französischen Wort für Meerenge benannte Metropole einst zur viertgrößten Stadt Amerika aufsteigen lassen. Ihre Abwanderung überließ das auf gewaltigen 140 Quadratmeilen wuchernde Detroit dem Zerfall. Von zwei Millionen Einwohnern ist die Bevölkerung seit 1950 auf heute rund 690.000 geschrumpft. Tendenz: weiter abwärts.

Die, die geblieben sind, sind zu einem Drittel bitter arm, arbeitslos und zu 80 Prozent schwarz. Sie leiden unter der höchsten Kriminalitätsrate aller US-Städte über 200.000 Einwohner und einer Polizei, die mangels Masse und funktionierender Autos im Schnitt 58 Minuten nach einem Anruf benötigt, um zum Einsatzort zu kommen.

In etlichen Stadtbezirken stehen Zehntausende Häuser leer. Schulen und Krankenhäuser wurden geschlossen, 40 Prozent der Straßenlaternen abgeschaltet. Aus Finanzgründen. Um der Verwahrlosung Einhalt zu gebieten, hat die Stadtverwaltung im großen Stil Gebäude abreißen lassen. Auf den Brachen, einige sind zu Farmland umgewidmet, steht das Gras schulterhoch. 35 Prozent des Stadtgebiets sind unbewohnbar, einige Drogen-Kieze in Anarchie versunken. Hollywood kommt nach Detroit, wenn es Elend sucht. Oder Schauplätze für Horrorfilme. Dazwischen tummeln sich Abenteurer und jede Menge Künstler, die in der untergehenden Stadt günstige Areale zur Selbstverwirklichung finden.

Die gewählte Stadtspitze wurde entmündigt

Nirgends lässt sich die Misere so bedrückend gut nachempfinden wie bei einer Fahrt über die Woodward Avenue, fast 50 Kilometer lang und einst eine der Prachtstraßen. Sie führt aus der Innenstadt in den Norden, vorbei an leerstehenden Hochhäusern aus der Art-Déco-Zeit, riesigen Kirchen, Museen mit bröckelnden Fassaden, dem Theaterdistrikt und dem Football-Stadion der Detroit Tigers. Über allem liegt Patina, der Gesamteindruck: kaputt, rückbaufällig. Etwas weiter entfernt liegt die Keimzelle von Motown, jener Soul-Stil, der schwarze wie weiße Amerikaner bis heute begeistert und aus der Autostadt die Musikstadt machte, in der Künstler wie Diana Ross, Lionel Richie, The Temptations, Marvin Gaye oder die Jackson Five ihre ersten Platten aufnahmen. Auch hier nur noch Moll-Töne.

Rick Snyder, der für Detroit zuständige republikanische Gouverneur von Michigan, sah zu Jahresbeginn keine andere Möglichkeit mehr - als die gewählte Stadtspitze um David Bing zu entmündigen. Seit März ist Kevin Orr als Allesalleinentscheider eingesetzt, um den Teufelskreis zu durchbrechen: steigende Pensionszusagen - wachsende Schulden, die mit zusätzlichen Krediten bedient werden müssen, was jährliche Zinslasten von 250 Millionen Dollar erzeugt - sinkende Häuserpreise infolge der Stadtflucht - massive Steuerausfälle - Unfinanzierbarkeit der maroden städtischen Infrastruktur.

Nun geht es womöglich ans letzte Tafelsilber

Orr war anfangs optimistisch. Als vor fünf Jahren die Autoindustrie vor dem Kollaps stand, gehörte er zu denen, die wirkungsvolle Bypässe legten. Am Moloch Stadt mit seinen Beharrungskräften biss sich der schwarze Sanierer die Zähne aus. Substanzielle Umschuldungsversuche wurden zwischen den verschiedenen Lobby-Interessen zerrieben.

Ein Beispiel: Detroit besitzt mit dem berühmten „Institut der Künste“ eines der wertvollsten kommunalen Museen weltweit. Die Meisterwerke von Van Gogh, Picasso, Matisse, Rembrandt und anderen wurden vor Jahrzehnten mit Steuerzahler-Dollar angeschafft, nicht von superreichen Mäzenen. Die Idee, den auf mehrere Milliarden Dollar geschätzten Kunstbestand zumindest teilweise zu versilbern, ist bisher ein Tabu. Ob der Insolvenzrichter das hinnimmt und von der delikaten Neu-Organisation der Stadtfinanzen ausklammert? Unwahrscheinlich. Detroit bleibt einstweilen nur die Rückbesinnung: Speramus meliora und Resurget Cineribus - „Wir hoffen auf Besseres“ und „Aus der Asche möge sie auferstehen“.