Essen. . Mehr und mehr entwickelt sich der Bau des neuen Stahlwerks in Brasilien für Thyssen-Krupp zum Desaster. Weil der Stahlkonzern die Probleme bei dem Prestigeprojekt bislang nicht in den Griff bekommen hat, werden nun milliardenschwere Abschreibungen fällig. Das schlägt auf die Bilanz durch: Im Geschäftsjahr 2010/11 verbuchte das Unternehmen einen Verlust von knapp 1,8 Milliarden Euro.
Mit ruhiger Stimme und betont sachlich trägt Thyssen-Krupp-Chef Heinrich Hiesinger die Bilanzzahlen vor. Doch die Lage des Konzerns ist denkbar ernst. Mehr und mehr entwickelt sich der Bau des neuen Stahlwerks in Brasilien zum Desaster. Weil Thyssen-Krupp die Probleme bei dem Prestigeprojekt bislang nicht in den Griff bekommen hat, werden nun milliardenschwere Abschreibungen fällig. Das wiederum schlägt auf die Bilanz durch: Im Geschäftsjahr 2010/11, das im September endete, verbuchte das Unternehmen einen Verlust von knapp 1,8 Milliarden Euro. Im Vorjahr gab es noch einen Gewinn von 927 Millionen Euro. Trotz der aktuellen Verluste sollen die Aktionäre – unter ihnen die einflussreiche Krupp-Stiftung – wie im Vorjahr eine Dividende von 45 Cent je Aktie erhalten.
Bilanzpressekonferenz überraschend vorgezogen
Als Strategie wählt Hiesinger die Vorwärtsverteidigung: Die Bilanzpressekonferenz, die eigentlich erst am nächsten Dienstag stattfinden sollte, wurde überraschend vorgezogen. Im Essener Thyssen-Krupp-Quartier erläuterte Hiesinger mit schonungsloser Offenheit, wo die Probleme liegen. Die eingeplanten Kosten beim Bau in Brasilien seien massiv überschritten worden, der Projektablauf habe sich verzögert. Und: „Die Probleme sind noch nicht vollständig gelöst.“ Immer wieder tauchen bauliche Mängel auf. Zuletzt sei eine Gasturbine ausgefallen, ein Hochofen musste drei Wochen stillgelegt werden.
Hiesinger will nun offenbar reinen Tisch machen – nur wenige Tage nach der 200-Jahr-Feier der Firma Krupp. Insgesamt nimmt der Konzern Wertberichtigungen von 2,9 Milliarden Euro bei der amerikanischen Konzerntochter (Steel Americas) und im Edelstahlgeschäft (Inoxum) vor. Der Großteil der Abschreibungen entfiel dabei mit 2,1 Milliarden Euro auf das Amerika-Geschäft. Der neue Konzernchef hatte die Probleme im Stahlgeschäft von seinem Vorgänger Ekkehard Schulz übernommen. Unter dessen Führung waren die Kosten für die beiden neuen Stahlwerke in den USA und Brasilien explodiert. Doch auch im aktuellen Geschäft läuft es nicht rund. Hiesinger verweist auf die „Schwäche der Absatzmärkte in den USA und Europa“. Tatsächlich bekommt Thyssen-Krupp die Folgen der Finanzkrise zu spüren. Er wagt derzeit keine Prognose, die über den Zeitraum von drei Monaten hinausgeht. „Wir fahren auf Sicht“, sagt er lediglich.
Billigarbeit aus China
Auch das Edelstahlgeschäft bereitet Hiesinger Probleme. Die dort vorgenommenen Abschreibungen in Höhe von 800 Millionen Euro begründete der Konzernchef unter anderem mit den Folgen der Finanzkrise. Thyssen-Krupp will die in die Gesellschaft Inoxum ausgelagerte Sparte bis Ende nächsten Jahres abstoßen. Betroffen sind rund 35 000 der insgesamt 180 000 Beschäftigten im Konzern. Zahlreiche Inoxum-Standorte befinden sich im Ruhrgebiet. Über einen Verkauf spricht Thyssen-Krupp mit Finanzinvestoren und Unternehmen aus der Stahlindustrie. „Wir halten uns alle Optionen offen“, so Hiesinger. Neben einem Verkauf sei grundsätzlich auch ein Börsengang möglich. Durch den Verkauf der Edelstahlsparte und weiterer Unternehmen will der frühere Siemens-Manager finanzielle Mittel für Investitionen vor allem im Technologiebereich erlösen.
Die Verluste in Brasilien und in den USA schränken den Spielraum von Thyssen-Krupp allerdings empfindlich ein. Auch deshalb rumort es im Lager der Arbeitnehmer. Die Verärgerung ist groß, dass sich die Konzernführung beim Bau des Werks in Brasilien gegen den hauseigenen Anlagenbauer Uhde entschied und stattdessen die chinesische Citic-Gruppe beauftragte. „Wir haben davor gewarnt. Das alles ist nicht wie eine Naturkatastrophe gekommen“, schimpft ein hochrangiger Arbeitnehmervertreter. Nun will Thyssen-Krupp immerhin Schadenersatz vom chinesischen Konzern verlangen.
Verluste haben personelle Konsequenzen
Die Verluste in Übersee haben auch personelle Konsequenzen. Der erst im vergangenen Jahr vom Konkurrenten Salzgitter abgeworbene Chef für den amerikanischen Thyssen-Krupp-Stahlbereich, Hans Fischer, scheidet zum Jahresende bereits wieder aus. Seine Aufgaben übernimmt zusätzlich Vorstandsmitglied Edwin Eichler, der auch die europäische Stahlsparte leitet. Eichlers Vertrag wird um weitere fünf Jahre verlängert.
Eine Verbesserung der Situation in Brasilien sei erst in der zweiten Hälfte des laufenden Geschäftsjahres zu erwarten, sagt Konzernchef Hiesinger. „Der Weg nach vorn wird nicht ganz leicht.“