Essen. .
Torsten Hinrichs, Deutschland-Chef der Ratingagentur Standard & Poor’s, will im Interview mit der WAZ-Gruppe von einer Mitschuld seiner Branche an der Schuldenkrise nichts wissen. „Es sind Politiker, die für die Verschuldung eines Staates verantwortlich sind.“ Ein Streitgespräch.
Tragen die Ratingagenturen eine Mitschuld an der aktuellen Schuldenkrise?
Torsten Hinrichs: Es wäre falsch, Ursache und Wirkung zu verwechseln. Es sind Politiker, die für die Haushaltspolitik und damit den Grad der Verschuldung eines Staates verantwortlich sind, nicht Ratingagenturen.
Aber es gibt auch sich selbst erfüllende Prophezeiungen.
Hinrichs: Richtig ist, dass die Märkte mit der zunehmenden Nervosität zuweilen irrational reagieren. Unsere Aufgabe ist lediglich, eine Meinung zur zukünftigen Zahlungsfähigkeit eines Landes zu äußern – und das so präzise wie möglich.
Wenn es in einem Staat ohnehin schon brennt, wirken die Ratingagenturen wie ein Brandbeschleuniger…
Hinrichs: Wir sind weder Brandstifter noch Feuerwehr. Wir schaffen Transparenz. Gäbe es uns nicht, würde man Ratingagenturen erfinden, sagen viele. Denn wir weisen darauf hin, worum es gehen müsste, nämlich die Gesundung der öffentlichen Haushalte. Jeder Schritt in diese Richtung sorgt für mehr Vertrauen an den Kapitalmärkten.
Ratingagenturen können auch dafür sorgen, dass Steuerzahler zur Kasse gebeten werden, weil ihr Land in eine Abwärtsspirale gerät.
Hinrichs: Es sind nicht die Ratingagenturen, die die Finanzierung von Staatshaushalten teurer machen. Ratings sind nur ein Aspekt bei der Preisstellung von Staatsanleihen, wie jüngste Beispiele deutlich zeigen. Die Politik entscheidet selbst, wie sie mit Steuergeldern umgeht. Wir machen dieses Verhalten lediglich sichtbar.
Mit Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch haben drei große Privatunternehmen in der Schuldenkrise eine enorme Macht. Darf das sein?
Hinrichs: Ich würde nicht von Macht, sondern von Einfluss sprechen. Letztendlich basiert dieser Einfluss auf einem über Jahre gewachsenen Vertrauen der Märkte in die Richtigkeit unserer Einschätzungen. Wir sind einer der wenigen objektiven Beobachter, die ihre Meinung sagen, auch wenn diese zuweilen unbequem ist.
Sind Sie denn wirklich so unabhängig? S&P ist ein Unternehmen, das vor allem eines will: Geld verdienen.
Hinrichs: Unsere Unabhängigkeit ist unser Geschäftsmodell. Standard & Poor’s gehört zur Unternehmensgruppe McGraw-Hill Companies, die in den USA auch ein großer Verlag für Lehrmittel ist. McGraw-Hill ist mehrheitlich börsennotiert und teilweise im Besitz der Gründerfamilie. Anders als Banken ist S&P finanziell überhaupt nicht engagiert an den Kapitalmärkten. Auch für unsere Mitarbeiter gibt es strenge Auflagen, unter anderem zur Offenlegung ihrer Wertpapierdepots.
Bei einem geschätzten Umsatz von knapp 1,7 Milliarden Euro soll der operative Gewinn von S&P bei mehr als 760 Millionen Euro liegen. Das sind Zahlen, von denen die meisten Unternehmen nur träumen können.
Hinrichs: Das möchte ich nicht kommentieren. Wir veröffentlichen keine Zahlen.
Wie passt das zum Thema Transparenz?
Hinrichs: Selbstverständlich wollen wir auch Geld verdienen, wenn wir Dienstleistungen erbringen. Wir werden in der Regel von demjenigen bezahlt, der eine Anleihe herausgibt. Das erachten wir als die beste Herangehensweise. Aber klar ist doch: Egal, wer uns bezahlt: Es gibt immer ein jeweiliges Interesse. Damit gehen wir ganz offen um.
Wie lösen Sie das Problem, dass über die Höhe der Gebühr, die S&P erhält, Einfluss auf die Bewertung genommen werden könnte?
Hinrichs: Wir haben zahlreiche Maßnahmen getroffen, um die potentiellen Interessenskonflikte zu lösen. Um ein paar Beispiele zu nennen: Unsere Analysten arbeiten völlig getrennt von den Kundenbetreuern, die unsere Gebühren verhandeln. Die Analysten wissen nicht, was mit den Ratings verdient wird. Dafür haben wir klare betriebsinterne Regeln. Außerdem wird jedes Rating von einer Gruppe von Analysten im sogenannten Ratingkomitee entschieden, nie von einer Einzelperson. Über die strikten Anlagerestriktionen für unsere Mitarbeiter haben wir bereits gesprochen.
Fakt ist aber auch, dass die Ratings für Ihre Auftraggeber Geld wert sind. Denn von Ihrem Urteil hängt ab, wie günstig oder teuer die Staaten oder Unternehmen an Kapital kommen.
Hinrichs: Unsere Glaubwürdigkeit ist unser wichtigstes Kapital. Wir lassen uns von unseren Auftraggebern nicht beeinflussen.
Die Dax-Unternehmen legen in der Regel sehr präzise die Vorstandsvergütungen offen. Was verdienen eigentlich die Manager an der Spitze von S&P?
Hinrichs: Die Gehälter unserer Mitarbeiter veröffentlichen wir nicht. Die Vergütungen unserer Vorstände sind im McGraw-Hill Geschäftsbericht abgedruckt.
Müssen die Ratingagenturen stärker reguliert werden?
Hinrichs: Dafür sehe ich keine Veranlassung. Die Regeln in Europa wurden doch gerade erst verschärft. Es gibt zum Beispiel strengere Transparenz- und Dokumentationspflichten. Wir haben den Behörden in einem ersten Schritt mehrere hundert Ordner überreicht, in denen jeder Prozess, wie wir zu Ratings kommen, sehr genau protokolliert wird. Bevor schärfere Regeln aufgestellt werden, die nicht zuletzt auch zu höheren Eintrittsbarrieren für neue Anbieter werden könnten, sollte die bestehende Regulierung erst einmal getestet werden.
Ist es nicht merkwürdig, dass S&P das Rating von Griechenland in weniger als zwei Jahren um mehr als sieben Stufen gesenkt hat?
Hinrichs: Wenn sich Veränderungen unerwartet oder in relativ kürzeren Zeitabständen ergeben, müssen wir reagieren. Im Fall Griechenland haben wir bereits 2004 das Rating erstmals angepasst und herabgestuft.
Nachdem S&P die USA erstmals in der Geschichte herabgestuft hat, hagelte es Kritik. Starinvestor Warren Buffett zum Beispiel kündigte an, jetzt erst recht in US-Staatsanleihen zu investieren. Schmerzt das?
Hinrichs: Es ist normal, dass Länder, die herabgestuft werden, uns angreifen und ihre Sicht der Dinge darlegen. Aber Ratings sind unabhängige Meinungen, die Investoren wie Warren Buffett berücksichtigen können, aber nicht müssen.
Gleichwohl lagen die Ratingagenturen in der Vergangenheit auch falsch. Zu optimistische Bewertungen für amerikanische Hypothekenpapiere waren eine der Ursachen für die Finanzkrise 2008.
Hinrichs: Mit der Entwicklung unserer Ratings von Verbriefungen von amerikanischen Hypothekenpapieren waren wir selbst nicht zufrieden. Aber wir haben unsere Lehren daraus gezogen und unter anderem unsere Analyseverfahren verfeinert.
Können Sie ausschließen, dass es solche Fehleinschätzungen in Zukunft wieder gibt?
Hinrichs: Wir haben es mit Sicherheit schwerer gemacht, aber ein Restrisiko wird es immer geben.
Alle drei großen Ratingagenturen haben ihren Hauptsitz in den USA. Was halten Sie von der Idee, eine europäische Institution zu schaffen?
Hinrichs: Natürlich hilft den Märkten Meinungsvielfalt. Wichtig ist, dass für alle Anbieter die gleichen Bedingungen herrschen und keine Agentur staatlich bevorzugt wird.
Rechnen Sie damit, dass in Europa noch weitere Staaten herabgestuft werden?
Hinrichs: Darüber möchte ich nicht spekulieren.
Überreste von Lehman
Wie schätzen Sie die Situation in Deutschland ein?
Hinrichs: Für Deutschland haben wir einen stabilen Ausblick veröffentlicht. Das heißt: Aus heutiger Sicht gehen wir nicht davon aus, dass sich das Rating innerhalb der nächsten zwei Jahre verändert. Natürlich beobachten wir die Entwicklung kontinuierlich.
Ist es sinnvoll, europäische Anleihen, sogenannte Euro-Bonds, einzuführen?
Hinrichs: Die Grundvoraussetzung dafür, dass Euro-Bonds langfristig funktionieren, wäre eine stärkere politische und wirtschaftliche Integration in Europa. Davon sind wir aber noch weit entfernt.
Müssen wir uns angesichts der Krise auf ein jahrelanges Schwarzer-Peter-Spiel von Politik und Ratingagenturen einstellen?
Hinrichs: Leider verschwendet die Politik viel Energie damit, auf Ratingagenturen oder die Finanzwelt zu zeigen. Es wäre uns allen geholfen, wenn diese Energie eingesetzt würde, die staatlichen Haushalte in Ordnung zu bringen.