Essen. . Hunderttausende Menschen haben bundesweit gegen Atomkraft demonstriert. Es sind damit die größten Anti-AKW-Proteste seit Jahren. Unterdessen wächst in der Wirtschaft und in der Koalition der Widerstand gegen schnelle Akw-Abschaltungen.

Beim bisher größten Atom-Protest in Deutschland haben laut Veranstaltern am Samstag 250.000 Menschen in den vier deutschen Millionenstädten für die sofortige Abschaltung aller Atommeiler demonstriert. Auf Kundgebungen in Berlin, Hamburg, München und Köln werteten Redner die Atom-Katastrophe in Japan als Beleg für die Unbeherrschbarkeit der Atomkraft. DGB-Chef Michael Sommer forderte einen geordneten und unumkehrbaren Ausstieg.

Allein in Berlin gingen den Veranstaltern zufolge 120.000 Atomkraftgegner auf die Straße. In Hamburg folgten demnach 50.000 Menschen den Protestaufrufen, in Köln und München jeweils 40.000. Zu den Demonstrationen unter dem Motto "Fukushima mahnt - alle Akw abschalten" hatte ein breites Bündnis von Anti-Atom-Initiativen, Umweltverbänden, globalisierungskritischen und friedenspolitischen Organisationen aufgerufen. Im japanischen Fukushima waren bei der verheerenden Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe vom 11. März mehrere Atomreaktoren beschädigt worden. Das genaue Ausmaß des Atomunglücks ist weiterhin nicht bekannt.

Schneller Ausstieg gefordert

Die Veranstalter erklärten nach den Protesten: "Die Antwort der Bundesregierung muss jetzt das Abschalten der Atomkraftwerke sein." Mehrere Redner warfen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine "unverantwortliche Verzögerungs- und Verschleierungspolitik" vor. Mit ihrem Moratorium für die Akw-Laufzeitverlängerungen sowie mit den von ihr eingesetzten Kommissionen weiche sie der Notwendigkeit eines sofortigen Atomausstieg aus.

In Köln forderten die Demonstranten auf Plakaten zum Abschalten aller Atomkraftwerke weltweit auf und zogen über Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (“In vino veritas“) her. Der FDP-Politiker soll beim Bundesverband der Deutschen Industrie einen Zusammenhang zwischen dem Atom-Moratorium und den Landtagswahlen am Sonntag gezogen haben. Brüderle fühlt sich allerdings falsch wiedergegeben.

Vertreter der Anti-Atomkraft-Initiativen aus dem Münsterland forderten des Weiteren die NRW-Landesregierung auf, die Urananreicherungsanlage in Gronau zu schließen, da von dort auch japanische Atomanlagen beliefert würden. Unter dem Motto „Fukushima mahnt. Alle Atomkraftwerke abschalten!“ zogen die Demonstranten zum Rheinufer, wo die große Hauptkundgebung stattfand.

Zu den bundesweiten Aktionen aufgerufen haben unter anderem die Anti-Atom-Initiative Ausgestrahlt, die Umweltschutzorganisationen BUND, Naturfreunde Deutschland und Robin Wood sowie die Kampagnennetzwerke Attac und Campact. Unterstützt werden die Proteste auch von der evangelischen und katholischen Kirche, Gewerkschaften sowie Künstlern wie der Band „Wir sind Helden“.

Stromkonzerne wollen gegen Atomabschaltung klagen

Die Stromkonzerne bereiten Widersprüche und Schadenersatzforderungen wegen der Zwangsabschaltung der sieben alten Atomkraftwerke vor. „Wir müssen das prüfen“, sagte eine RWE-Sprecherin am Samstag auf Nachfrage und bestätigte damit einen Bericht des „Spiegels“.

Juristen aus dem RWE-Umfeld sagten dem Nachrichtenmagazin zufolge, allein aus aktienrechtlichen Gründen gebe es kaum andere Möglichkeiten, als das von der Bundesregierung beschlossene Moratorium juristisch zu prüfen und anzufechten.

Demnach muss ein Einspruch gegen den Beschluss spätestens in der zweiten April-Woche bei den Aufsichtsbehörden eingegangen sein. Der Vorstand des Energieversorgers Eon wolle darüber in den nächsten 10 bis 14 Tagen entscheiden, heißt es in dem Bericht.

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Unterdessen gibt es aus der Regierungskoalition zunehmend Widerstand gegen die schnelle Stilllegung von Reaktoren: "In der Atomfrage wurde überhitzt eine Entscheidung getroffen, die unsere Glaubwürdigkeit infrage stellt", sagte der Energieexperte der Union, Thomas Bareiß, dem "Spiegel". "Unsere bisherige Argumentation in der Kernenergie ist in sich zusammengebrochen." Unterstützung kam vom wirtschaftspolitischen Sprecher der CDU, Joachim Pfeiffer: Wenn die Kernkraft vom Netz genommen werde, werde der Druck auf die Strompreise noch einmal drastisch zunehmen. Aus der FDP wurde darauf verwiesen, dass Moratorium für Alt-AKW hätten Ministerpräsidenten der Union durchgesetzt.

Dem "Spiegel" zufolge trifft auch die von Merkel eingesetzte Ethik-Kommission, die mit über die AKW-Zukunft entscheiden soll, auf Kritik. Sie soll von Ex-Umweltminister Klaus Töpfer mitgeleitet werden. "Es kann nicht sein, dass am Ende Töpfer mit seinen Bischöfen kommt und dem Parlament sagt, wie es das Atomgesetz zu ändern hat", zitiert das Magazin einen namentlich nicht genannten Vertreter der Fraktionsspitze. Die Merkel-Kritiker wollten nun ein eigenes Beratergremium zusammenstellen. Töpfer selbst sagte in der "Bild am Sonntag", man müsse aus der Atomtechnik so schnell wie möglich aussteigen: "Ein anderes Handeln wäre nicht verantwortlich." Er glaube zudem nicht, dass die sieben abgeschalteten alten Meiler wieder ans Netz gehen würden.

Umweltbundesamt hält alte AKW für verzichtbar

Deutschland kann nach Ansicht des Umweltbundesamts (UBA) bis 2017 alle Atomkraftwerke stilllegen, ohne dass die Versorgung oder die Klimaschutzziele gefährdet wären. Im deutschen Kraftwerkspark bestünden Überkapazitäten von elf Gigawatt, was es erlaube, die sieben ältesten Kernkraftwerke plus Krümmel nicht wieder anzuschalten, berichtete der „Spiegel“ unter Berufung auf neue Berechnungen der Behörde, die dem Bundesumweltministerium vorlägen.

Vor allem Erdgas-Wärme-Kraftwerke könnten bis 2017 sukzessive die Stromproduktion der neueren Meiler übernehmen, heißt es demnach in dem UBA-Bericht. Deutlich höhere Strompreise werde es infolge eines Schnellausstiegs nicht geben.

(dapd/afp)