Berlin. Deutschland wappnet sich für ein russisches Manöver an der Nato-Ostflanke. Experten sagen, was im Ernstfall auf Unternehmen zukommt.
Es ist ein Szenario, das klar umrissen ist und als absolut realistisch gilt. Russland lässt Soldaten an der Ostflanke der Nato aufmarschieren und vielleicht wenig später einmarschieren. Sicherheitsexperten und Politiker äußerten zuletzt immer wieder Befürchtungen, Russland könnte ab 2029 in der Lage sein, anzugreifen. Wie die Nato bei einem Aufmarsch von Putins Soldaten an der Bündnisgrenze reagieren würde, wird in verschiedenen Ländern gerade durchgespielt – auch in Deutschland.
Sicher ist, die Bundesrepublik wäre zunächst nicht Frontstaat so wie es sich einst Militärtaktiker während des Kalten Krieges ausmalten. Auf Deutschland würde deshalb zunächst vor allem eine gewaltige logistische Aufgabe zukommen. Das Land im Herzen Europas würde zur Drehscheibe für Hunderttausende Soldaten werden, die von den Nato-Staaten gen Osten verlegt werden müssten.
Was das konkret bedeuten könnte und wie Zivilgesellschaft, aber auch die Wirtschaft bei dieser Kriegslogistik helfen müssten, umreißt die Bundeswehr in ihrem als geheim eingestuften Operationsplan Deutschland (OPLAN DEU). Auf 1000 Seiten haben die Verteidigungsexperten darin festgehalten, was es bedeutet, das Land kriegstüchtig zu machen. Klar ist: Die Bundeswehr wäre in dem Fall einer weiteren Eskalation mit Russland im Inland selbst auf Hilfe angewiesen und die Wirtschaft mit ihren Arbeitnehmern und Produktionsmitteln dürfte dabei der entscheidende Partner sein.
Eskalation mit Russland: Militärexperte hat dringenden Appell
„Unternehmen sind flexibel und in der Lage, sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen – auch an die Anforderungen der Bundeswehr für den Krisenfall“, sagte der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian, dieser Redaktion. Wie die Hilfe dann aussehen könnte, werde jetzt konkreter. „In der DIHK schaffen wir daher wieder Kapazitäten, um den notwendigen Austausch zwischen den Industrie- und Handelskammern und der Bundeswehr vertiefen zu können“, ergänzte er. Derzeit aber wären sowohl Wirtschaft als auch Land nicht gut aufgestellt, sollte Russland tatsächlich ernst machen.
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„Die Wahrheit ist, dass wir in Deutschland extrem langsam und deshalb im Moment schlecht vorbereitet sind auf einen Krieg mit Russland“, sagte der Militärexperte Nico Lange im Gespräch mit dieser Redaktion. Unternehmen müssten jetzt Pläne entwickeln, die dann greifen – und sich auch entsprechend vorbereiten. „So wie wir jetzt aufgestellt sind, befürchte ich, dass im Ernstfall dann gar nichts funktioniert.“
Drehscheibe Deutschland: Was das für Unternehmen bedeuten würde
Ganz blauäugig geht aber auch die Wirtschaft die Sache nicht an. Schon seit der Corona-Pandemie und auch nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine versuchen viele Unternehmen Lieferketten breiter aufzustellen und die Lagerbestände, dort wo es geht und sinnvoll ist, zu erhöhen. Mit Engpässen und auch mit Hamsterkäufen durch die Verbraucher selbst wäre bei einer weiteren Eskalation mit Russland wohl erneut zu rechnen. Wobei sich für Firmen auch Nachfrageschocks ergeben könnten. Bei einem möglicherweise drohenden Krieg würde wohl eher das Geld zusammengehalten werden, mit eigenen Investitionen wären Verbraucher in einer derart unsicheren Lage wohl vorsichtig.
Würde Deutschland zur Drehscheibe für Nato-Truppen wäre die Wirtschaft in eigenen Tätigkeiten jedoch zunächst wohl eingeschränkt. Sollte tatsächlich der Verteidigungsfall ausgerufen werden, hätten Armee und Staat zudem massive Durchgriffsrechte. Militärgerät- und Truppentransporte hätten dann in jedem Fall Vorfahrt. Denkbar ist, die Bahn, aber auch Verbindungswege wie die Autobahn A2 für zivile Nutzungen zeitweise zu sperren, sagen Experten.
Bundeswehr gibt Firmen schon konkrete Handlungsempfehlungen
Die Bundeswehr selbst empfiehlt den Firmen schon jetzt auch zusätzlich Lkw-Fahrer auszubilden. Konkret wird mit Unternehmern zum Beispiel das Szenario besprochen, dass osteuropäische Kraftfahrer massenhaft ausfallen, weil sie in ihren Heimatländern zum Wehrdienst verpflichtet werden. Entsprechend sollten Firmen nun reagieren und „auf 100 Mitarbeiter mindestens 5 zusätzliche Lkw-Fahrer ausbilden“.
In einem Krisenfall könnte der Staat aber auch mit Blick auf das Personal weit eingreifen. Das sogenannte Arbeitssicherstellungsgesetz macht es möglich, Beschäftigte für als besonders relevant geltenden Tätigkeiten hinzuzuziehen. Zum Dienst verpflichtet werden kann man dann zum Beispiel im Bereich Strom- und Wasserversorgung sowie der Abfall- und Abwasserentsorgung, im Verkehrswesen oder auch in Raffinerien.
Panzerreparatur bei VW? Experte hält das im Krisenfall durchaus für möglich
Auch die Energieversorgung schreibt die Bundeswehr der Wirtschaft ins Hausaufgabenheft. Autark zu sein, dürfte aber nur zeitweise möglich sein. „Wenn mal ein Bagger die Leitung kaputt macht, kann ein Notstromaggregat zum Einsatz kommen, aber es wird nicht möglich sein, tage- oder wochenlang die öffentliche Energieversorgung zu ersetzen“, sagte ein Industriemanager dieser Redaktion.
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Grundsätzlich gehen Gedankenspiele auch noch weiter. In dem dystopischen Szenario einer direkten Kriegsbeteiligung Deutschlands würden einzelne Firmen wohl auch gewisse Produktions- oder Reparaturleistungen übernehmen müssen. Panzeraufbereitung oder Militärfahrzeugbau bei VW in Wolfsburg? Der Automobilexperte Ferdinand Dudenhöffer hält das für realistisch: „Vom 4x4 SUV oder Geländewagen ist es kein großer Schritt mit grüner Farbe das Ding gelände- und feldtauglich zu machen“, so Dudenhöffer gegenüber unserer Redaktion.
Kriegswirtschaft: Auch andere Firmen könnten wohl die Produktion umstellen
Innerhalb der Automobilbranche selbst ist man da skeptischer. Lackiertauchbecken seien auf die Größe von Pkw ausgelegt, jeder Millimeter Bewegung eines Industrieroboters sei aufwendig zu programmieren, entsprechende Werkzeuge in Presswerken zum Beispiel auf Autotüren oder -teile ausgelegt. „So ein neues Werkzeug herzustellen, dauert ein Jahr“, sagte eine Quelle aus der Branche. Helfen könnte man möglicherweise mit Werksärzten – und so öffentliche Krankenhäuser entlasten. VW selbst teilte auf Anfrage lediglich mit, auf eine „Vielzahl von Szenarien vorbereitet“ zu sein und „entsprechende Notfallpläne“ vorzuhalten.
Auch andere Branchen wie zum Beispiel Arzneimittelhersteller zeigen Bereitschaft, zu unterstützen, ebenso die Textilwirtschaft. Trigema-Chef Wolfgang Grupp Junior verwies gegenüber unserer Redaktion auf eine ohnehin hohe Wertschöpfung im Inland. Schnell Bundeswehruniformen herzustellen, wäre wegen fehlender Spezialmaschinen zwar nicht machbar, helfen könne man wohl dennoch. „Sollten die Soldaten im Verteidigungsfall zum Beispiel lange Unterwäsche oder T-Shirts gebrauchen können, wären wir in der Lage, schnell die Produktion umzustellen“, sagte Grupp.
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Glaubhaft verteidigungsfähig: Experte mahnt Abschreckung an
Der Hamburger Beiersdorf-Konzern teilte auf Anfrage mit, man verfüge für verschiedene Szenarien über einen Plan, der unter anderem „die Sicherheit unserer Lieferkette, die Versorgung mit Energie oder die Umstellung auf alternative Produkte“ abdecke. Auch der weltweit tätige Konsumgüterhersteller Henkel arbeitet mit Krisenplänen. Produktionskapazitäten könnten flexibel an veränderte Bedarfe angepasst werden.
Der Wirtschaft Anforderungen zu erklären und auf einen möglichen Konflikt vorbereiten – der Militärökonom Wolfang Müller vom German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) in Hamburg hält das für zwingend geboten. „Verteidigung beginnt schon weit vor einem Krieg. Ein Land muss über Fähigkeiten verfügen, mit denen es eine Eskalation bestehen kann. Glaubhafte Abschreckung ergibt sich aber nicht nur aus militärischen Fähigkeiten, sondern auch aus der Resilienz von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wir müssen gesamtgesellschaftlich resilient werden“, sagte Müller dieser Redaktion.
Krisensituation üben? Was aus Sicht des Städte- und Gemeindebunds dagegen spricht
Theoretische Pläne reichten aber nicht aus, warnt Militärexperte Nico Lange. „Wir kommen um realitätsnahe Übungen nicht herum“. Er verweist auf die Ukraine, wo seit 2014 für den Ernstfall trainiert worden sei. „Jetzt werden Städte angegriffen, aber die Verwaltungen funktionieren weiter. Jeder macht sich nützlich“, erklärte Lange.
Der Deutsche Städte und Gemeindebund (DSTGB) hält breit angelegte Übungssituationen hingegen für „weder zweckmäßig noch erforderlich“, sagte DSTG-Hauptgeschäftsführer André Berghegger dieser Redaktion. Ein Grund sei, dass im Krisenfall erforderliche Aktivitäten der Städte und Gemeinden bei der Unterstützung von Nato-Truppen stark variierten. „Dem widerspricht zudem auch der Grad an Geheimhaltung, der dem Operationsplan zugrunde liegt“, erklärte er. Viel wichtiger sei, sich vor Ort einen Überblick über Akteure, ihre Einsatzbereitschaft und verfügbare Ressourcen zu verschaffen, mahnte Berghegger. Zudem sollten Krisenpläne für Schutz und Versorgung der Bevölkerung vorliegen. Glaubhaft verteidigungsfähig zu sein – nicht nur die Wirtschaft wird damit also noch eine Weile beschäftigt sein.
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