Essen. Nach dem Eklat bei Thyssenkrupp stehen sich BDI und IG Metall unversöhnlich gegenüber wie lange nicht. Und die SPD fordert Russwurms Rücktritt.

Detlef Wetzel war wahrscheinlich der leiseste Chef, den die IG Metall je hatte. Wenn er Bühnen bestieg und brüllen musste, weil Gewerkschafter das vor großen Mengen und Fahnenmeeren so machen, sah man ihm die Anstrengung an, auch die mentale. Denn der Feingeist aus dem Siegerland gehörte zu den ersten führenden Metallern, die der Arbeitgeberseite mehr mit Argumenten und konstruktiven Vorschlägen begegneten als mit Klassenkampf-Parolen. Mit Berthold Huber beendete er die Betonkopf-Ära unter Jürgen Peters.

Doch als dieser Detlef Wetzel am Donnerstagabend aus der Sitzung des Stahl-Aufsichtsrats von Thyssenkrupp nach draußen unter die Leute trat, da reckte er die Faust. Er war drinnen gerade zurückgetreten als stellvertretender Aufsichtsratschef, danach gleich raus gekommen, um sich unter die Leute zu mischen, er ging auf die Bühne der Mahnwache und versuchte ihnen Mut zu machen für das, was jetzt kommt.

Siegfried Russwurm schlägt als BDI-Präsident auch mal diplomatische Töne an, bei Thyssenkrupp ist er einen öffentlich ausgetragenen Konflikt mit der IG Metall eingegangen.
Siegfried Russwurm schlägt als BDI-Präsident auch mal diplomatische Töne an, bei Thyssenkrupp ist er einen öffentlich ausgetragenen Konflikt mit der IG Metall eingegangen. © picture alliance / SZ Photo | Friedrich Bungert

Aber was kommt jetzt, nicht nur bei Thyssenkrupp? Wie machen die Protagonisten der Deutschland AG weiter und wie Deutschlands mächtigste Gewerkschafter? Am größten Stahlwerk ist am vergangenen Donnerstag mehr passiert als ein Eklat bei Thyssenkrupp. Der gehört bei diesem Unternehmen alle paar Jahre dazu. Wie werden die Tarifpartner, die auf ihr Modell der Mitbestimmung zumindest in Festtagsreden doch so stolz sind, die mit ihm die Stärke des Standorts D in den vergangenen 15 Jahren begründen, künftig miteinander umgehen?

SPD-Rücktrittsforderungen gegen Russwurm - als BDI-Präsident

Am Ende dieses Donnerstags gibt es Rücktrittsforderungen gegen Siegfried Russwurm - nicht als Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp, sondern als Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI), des wohl einflussreichsten Lobbyverbands im Land. Sein Konterpart als BDI-Präsident ist die IG Metall. Zusammen bilden sie die mächtigste Interessenvertretung, die eine Branche in Deutschland haben kann.

Was war geschehen? Russwurm hatte zwei Tage vor dem Eklat bei Thyssenkrupp Steel (TKS) mit den anderen Aufsichtsräten der Kapitalseite des Essener Mutterkonzerns ein Statement unterschrieben, in dem er das Vorgehen der IG Metall scharf attackierte, ihr „persönliche Verunglimpfungen“ des Konzernchefs Miguel López und unverantwortliche Stimmungsmache vorwarf. Die Reaktion kam prompt, vom Vizechef der IG Metall, Jürgen Kerner: „Es war Herr Russwurm, der mit seinen Doppelstimmen Blanko-Schecks an Herrn López ausgestellt und damit eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Arbeitnehmerseite aufgekündigt hat“, feuerte er zurück.

Jürgen Kerner, hier bei der Maikundgebung dieses Jahres in Duisburg, nimmt als Vizechef der IG Metall und Vizechef des Aufsichtsrats der Thyssenkrupp AG derzeit eine harte Opposition zum Aufsichtsratschef und BDI-Präsidenten Siegfried Russwurm ein.
Jürgen Kerner, hier bei der Maikundgebung dieses Jahres in Duisburg, nimmt als Vizechef der IG Metall und Vizechef des Aufsichtsrats der Thyssenkrupp AG derzeit eine harte Opposition zum Aufsichtsratschef und BDI-Präsidenten Siegfried Russwurm ein. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Es folgten der Rauswurf von Stahlchef Bernhard Osburg und zwei weiteren Vorstandsmitgliedern sowie der Rücktritt gleich von vier TKS-Aufsichtsräten, darunter mit Wetzel der frühere Chef der IG Metall. Damit hat dieser Konflikt den Dunstkreis von Thyssenkrupp verlassen, hier sind nicht irgendwelche Aufsichtsräte irgendeines Unternehmens frontal aufeinander geprallt. Sondern die Spitzen der einflussreichsten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen dieser Republik.

Als Russwurm seine Doppelstimme einsetzte, war Schluss mit lustig

Mit Kerner hat die Frankfurter Zentrale der IG Metall ihre Nummer zwei nach Essen in den Thyssenkrupp-Konzernaufsichtsrat geschickt. Dem Vernehmen nach soll es zwischen ihm und Russwurm anfangs gar nicht so schlecht gelaufen sein. Doch damit war in dem Moment Schluss, in dem Russwurm die geschlossene Arbeitnehmerbank zum ersten Mal mit seinem Doppelstimmrecht überstimmt und so brüskiert hat.

Mehr zur aktuellen Krise bei Thyssenkrupp

Es sollte nicht das letzte Mal bleiben, nach der Erweiterung des Konzernvorstands von drei auf fünf Mitglieder im Dezember setzte Russwurm im Mai auch den Einstieg des tschechischen Unternehmers Daniel Kretinsky mit seiner Doppelstimme durch. Und erfüllte damit die Wünsche des in der Belegschaft hoch umstrittenen Konzernchefs López, dem Betriebsrat und IG Metall vorwarfen, sie bei allen Entscheidungen übergangen zu haben.

IG Metall und BDI haben in den vergangenen Jahren immer wieder gemeinsam versucht, Industriepolitik in ihrer beider Interesse durchzusetzen. Zuletzt forderten sie von der Bundesregierung einen verbilligten Industriestrompreis. Diesmal scheiterten sie (an der FDP), in den Jahren zuvor zogen sie aber nicht selten erfolgreich gemeinsam die Strippen im Berliner Regierungsviertel.

BDI und IG Metall kämpften in den vergangenen Jahren oft gemeinsam

Dem von der IG Metall entwickelten und vom BDI unterstützten Modell umfangreicher Kurzarbeit in Krisenzeiten wird noch heute zugeschrieben, dass es Deutschland besser durch die große Finanzkrise 2008/2009 gebracht hat als jedes andere Industrieland. Denn es versetzte die Unternehmen in die Lage, auf Kündigungen weitgehend verzichten zu können, so dass sie durchstarten konnten, als die Krise vorbei war.

Nach dem Eklat bei Thyssenkrupp stehen sich der BDI-Präsident und die IG-Metall-Spitze nun aber frontal gegenüber, fast wie einst unter den Betonzeiten der Hardliner Jürgen Peters (IG Metall) und Michael Rogowski (BDI). Denn für die Gewerkschaft geht es um den Erhalt einer Mitbestimmung auf Augenhöhe und damit ums Eingemachte, um die Basis gemeinsamer Interessenpolitik. Beim Ruhr-Konzern kommt verschärfend hinzu, dass im Stahl sogar die noch weitergehende Montanmitbestimmung gilt und ausgehebelt wurde.

IG Metall sieht die Montanmitbestimmung durch Russwurm ausgehebelt

Darin gibt es alte Privilegien für Unternehmen im Bergbau und der Stahlindustrie, etwa entfällt hier das Doppelstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden, was zu einer echten Parität von Eigentümer- und Arbeitnehmerseite führt. Eine Abberufung von Vorständen gegen den Willen von IG Metall und Betriebsrat wäre damit bei Thyssenkrupp Steel nicht möglich gewesen.

Deshalb, so zumindest die Lesart der IG Metall, hätten Konzernchef López und Russwurm den Stahlchef Osburg derart unter Druck gesetzt, öffentlich gedemütigt und letztlich „weichgekocht“, wie hochrangige Gewerkschafter sagen, dass er aufgab. Gegen „strukturelle Gewalt“ könne auch die Montanmitbestimmung nichts ausrichten, hieß es dazu aus der Gewerkschaft. Für die IG Metall ist es eine sehr schmerzhafte Niederlage, dass sie diesmal bei TKS nicht stark genug war, ist eine ungewohnte Erfahrung, die ein ungewünschtes Signal der Schwäche an ihre treusten Mitglieder sendet.

Auch interessant

Das war zugleich das Fanal für die Sozialdemokratie im Land, gemäß ihrer Wurzeln als Arbeiterpartei den Rücktritt Russwurms als BDI-Präsident zu fordern.  „Es ist ein Skandal, dass der BDI-Präsident die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland versenkt, das Ruhrgebiet anzündet und das Wirtschaftsmodell Deutschland von der Kapitalseite aus rücksichtslos angreift“, sagte Jochen Ott, SPD-Fraktionschef im NRW-Landtag, unserer Redaktion. Es gehe ihm nur noch darum, einseitig Kapitalinteressen durchzusetzen. „Wir haben in Deutschland und gerade im Ruhrgebiet eine andere Tradition: Hart in der Sache, aber immer den Ausgleich im Blick.“

Klarstellung zur Aufgabe der Aufsichtsräte bei Thyssenkrupp

Russwurm wiederum fügte seiner Erläuterung der Personalentwicklungen, die nicht nur in Duisburg als Nachtreten gegen Osburg aufgenommen wurde, noch eine Belehrung darüber an, was seine Aufgabe als Aufsichtsratschef des Gesamtkonzerns sei. Hier scheine „eine Klarstellung angebracht“, erklärte er und betonte: „Das deutsche Aktienrecht und der deutsche Corporate Governance Kodex geben die Richtschnur für das Handeln der Organe des Unternehmens vor. Der Aufsichtsrat der Thyssenkrupp AG ist – wie alle Organe des Unternehmens – dem Unternehmensinteresse verpflichtet. Seine Mitglieder unterliegen in der Ausübung ihres Mandats der Sorgfaltspflicht und Verantwortlichkeit ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleitung.“

Auf den Startknopf für dne Bau der ersten DRI-Anlag zur Erzeugung von grünem Stahl drückten vor einem Jahr Bundeswirtschaftminister Robert Habeck (v.l.n.r.), Thyssenkrupp-Konzernchef Miguel López, Stahl-Chef Bernhard Osburg, NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubauer und Gesamtbetriebsratsvorsitzender Tekin Nasikkol noch gemeinsam.
Auf den Startknopf für dne Bau der ersten DRI-Anlag zur Erzeugung von grünem Stahl drückten vor einem Jahr Bundeswirtschaftminister Robert Habeck (v.l.n.r.), Thyssenkrupp-Konzernchef Miguel López, Stahl-Chef Bernhard Osburg, NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubauer und Gesamtbetriebsratsvorsitzender Tekin Nasikkol noch gemeinsam. © DPA Images | Oliver Berg

Was nach dem klaren Bekenntnis zu López und der Abrechnung mit dem Stahlvorstand nichts anderes bedeutet, als dass López mit seiner harten Linie gegenüber dem Stahl aus Sicht der Eigentümer richtig liegt - und alle, die das Gegenteil behaupten, falsch. Das taugt nicht, um Wogen zu glätten - und soll es wohl auch nicht. Mit einem Wort: Die Essener Führung will ihren Konfrontationskurs erkennbar fortsetzen oder ihm ausweichen, indem sie Managerinnen und Manager in Duisburg installiert, die auf ihrer Linie sind.

Wetzel zitiert seine Frau: „Bist Du unter die Räuber gefallen?“

Was für den Konzern und was für den Stahl am besten ist, muss die Zukunft zeigen, für beide Linien gibt es Argumente. Worauf sich der Konzern und der BDI-Präsident aber sicher einstellen können, ist der Widerstand der Stahlkocher gegen alles, was künftig aus Essen kommt und aus ihrer Sicht zu hart ist. Wetzels gen Himmel gereckte Arbeiterfaust kam gut an, sie herzten Wetzel und Gabriel zum Abschied. Letzterer wünschte ihnen „bessere Eigentümer als ihr jetzt habt“. Wetzel zitierte hörbar angefasst seine Frau, die ihn letztens gefragt habe, ob er jetzt „unter die Räuber gefallen“ sei.

Sigmar Gabriel sucht nach dem Eklat bei Thyssenkrupp Steel in Duisburg die Nähe zur Belegschaft - und bekam sie.
Sigmar Gabriel sucht nach dem Eklat bei Thyssenkrupp Steel in Duisburg die Nähe zur Belegschaft - und bekam sie. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Die von den Aktionären und Russwurm kritisierte Emotionalisierung des Konflikts ist mit dem Austausch der Stahl-Führung nicht aus der Welt. Und sie geht über Thyssenkrupp und das Ruhrgebiet hinaus. Schon deshalb, weil die Politik längst involviert ist, sie hat Thyssenkrupp zwei Milliarden Euro für den Bau seiner ersten Anlage zur Erzeugung von grünem Stahl versprochen. Daran hat Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol nicht ohne Grund sofort erinnert, als er am Tag nach dem Eklat forderte: „Die Politik auf Bundes- und Landesebene ist jetzt gefordert und muss eingreifen.“

CDU-Ministerpräsident Wüst, SPD und Grüne in Sorge um grünen Stahl

Das wäre gar nicht nötig gewesen: Mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) stehen Spitzenpolitiker in Berlin und Düsseldorf mit ihren zugesagten Milliarden im Feuer und schauen sehr genau hin, wie es mit TKS nun weitergeht. Die SPD steht bereits auf der Kampflinie der IG Metall.

Auch interessant

Es wird vermutlich nicht lange dauern, bis wieder über den Einstieg des Staates bei TKS debattiert wird. Vor allem dann, wenn der tschechische Miteigentümer Kretinsky, der die Hälfte an TKS übernehmen soll, wieder abspringen sollte. Eine Beteiligung des Landes, ähnlich wie bei Salzgitter in Niedersachsen, hatte die IG Metall vor vier Jahren vehement gefordert, zuletzt hielt sich die Gewerkschaft damit zurück. Vielleicht hofft sie, dass die Bundes- und Landesregierungen von selbst darauf kommen, denn drängen lassen sie sich gemeinhin nicht so gern.

Muss der Staat Thyssenkrupp Steel retten? Debatte dürfte bald kommen

SPD-Kanzler Olaf Scholz hat sich gerade erst medienwirksam in der Meyer-Werft dafür feiern lassen, dass er ihr Hilfe vom Bund zusicherte. Er nannte die Werft „systemrelevant für die maritime Wirtschaft in Deutschland“. Ähnlich sieht es Wirtschaftsminister Habeck. Deutschlands größten Stahlerzeuger systemrelevant für die deutsche Stahlindustrie zu nennen, wäre da kein großer Schritt.

Wie realistisch das ist und ob es überhaupt sinnvoll wäre angesichts massiver Überkapazitäten der europäischen Stahlindustrie, steht auf einem anderen Blatt. Zumindest die Neigung von Managern und Industrielobbyisten, im Notfall bei Staatshilfen ihre marktliberale Managergrundschule für den Moment zu vergessen, lässt ein solches Szenario nicht gänzlich ausgeschlossen erscheinen. Es wäre zugleich die nächste Niederlage für das deutsche Modell der Mitbestimmung: Der Staat rettet nur Unternehmen, in denen es Management, Eigentümer und Mitbestimmung nicht geschafft haben, eine gemeinsame eigene Lösung zu finden.

Weitere Texte aus dem Ressort Wirtschaft finden Sie hier: