Marl. Olaf Scholz reiste direkt von Solingen zu Evonik in Marl. Die Chemieindustrie ist unter Druck. Mit dem Kanzler hat sie einen Fürsprecher.
Es summt beharrlich, als Olaf Scholz auf dem weitläufigen Werksgelände in Marl ein Gebäude betritt, das wie ein überdimensionierter Chemiebaukasten wirkt. Für den Effekt werfen Scheinwerfer grünes Licht auf die silbernen Schläuche, womit die Szenerie etwas Futuristisches bekommt. Der Kanzler positioniert sich vor einem Bioreaktor, in dem Bakterien schwimmen – „zirka zehn Millionen Mal so viele, wie es Menschen auf der Erde gibt“, heißt es in einem Infoblatt, das der Essener Konzern Evonik verteilt, der Gastgeber von Scholz beim Besuch im Chemiepark.
Eigentlich sollte Marl die erste Station für Scholz auf einer schon vor einigen Wochen geplanten Reise durch Nordrhein-Westfalen sein. Nach dem Messeranschlag von Solingen muss das Kanzleramt kurzfristig die Terminpläne ändern. Der Besuch von Scholz im nördlichen Ruhrgebiet verzögert sich, weil der Kanzler zunächst in die Nähe des Tatorts eilt. In Marl hellt sich die ernste Miene des Kanzlers mit der Zeit ein wenig auf. „Ich war jedenfalls ganz bewegt von dem, was man hier sehen konnte – und bewegt von der Begeisterung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mit denen ich hier auch sprechen konnte“, sagt Scholz, nachdem er sich in Marl ein Projekt namens „Rheticus“ angeschaut hat.
Mit dem Vorhaben will Evonik unter Beweis stellen, dass so etwas wie eine künstliche Fotosynthese möglich ist. Durch eine Kombination aus chemischen und biologischen Schritten sollen aus Kohlendioxid (CO2), Wasser und erneuerbarem Strom Alkohole wie Butanol oder Hexanol entstehen – wertvolle Chemikalien also, die für Kunststoffe oder Nahrungsergänzungsmittel benötigt werden.
Scholz würdigt Projekt „Rheticus“ von Evonik in Marl
Es ist ein Vorzeigeprojekt an einem der größten Chemiestandorte des Landes. Die Versuchsanlage soll dazu beitragen, das klimaschädliche CO2 als Rohstoff für die Produktion nachhaltiger Chemikalien zu nutzen. Die Chemieindustrie steht unter dem Druck, ihre Produktion klimafreundlich umzubauen. „Rheticus“ ist aus Sicht von Evonik ein gutes Beispiel dafür, dass die Industrie beim Umweltschutz nicht ein Problem darstellt, sondern ein Problemlöser sein kann.
Von den rund 11.000 Beschäftigten am Chemiepark Marl sind derzeit 7000 Menschen direkt bei Evonik angestellt – und etwa 4000 bei anderen Arbeitgebern. Evonik befindet sich im Umbruch. Der jahrelang erfolgsverwöhnte Essener Chemiekonzern Evonik will angesichts einer schwierigen Marktlage bis zu 2000 Arbeitsplätze abbauen, davon rund 1500 Stellen in Deutschland.
„Es gibt Probleme“, sagt Evonik-Chef Christian Kullmann, während der Kanzler neben ihm auf dem Gelände des Chemieparks in Marl steht. Die Energiekosten, so Kullmann, „könnten günstiger sein“. Kullmann würdigt aber auch das Engagement des Kanzlers für die chemische Industrie in Deutschland. „Gerade an diesem schweren Tag – der Bundeskanzler kommt aus Solingen – hatte das hier auch für uns eine besondere Bedeutung“, sagt der Evonik-Chef.
Kanzler Scholz zu Evonik: „Ein hochleistungsfähiges Unternehmen“
Der Kanzler gibt die Komplimente zurück. „Evonik ist ein hochleistungsfähiges Unternehmen“, sagt Scholz und fügt ein „Weltspitze“ hinzu. Deutschland sei „ein Industriestandort“, betont er. „Das soll auch in der Zukunft so sein und so bleiben.“
Sein Ziel sei es, dass die Stromversorgung „bezahlbar und international wettbewerbsfähig“ sei. Dafür habe seine Regierung schon einiges getan, so der SPD-Politiker. „Wir bleiben aber dran.“ Auch das Thema „Entbürokratisierung“ liege ihm am Herzen. In Gesprächen mit Beschäftigten von Evonik habe er die Frage gehört: „Warum dauern die Genehmigungen alle so lange?“ Es gehe darum, sagt Scholz, „die schwierigen bürokratischen Genehmigungsprozeduren, die in den letzten zehn, 20, 30 Jahren von allen Ebenen in Deutschland liebevoll aufgebaut worden sind, jetzt mit gleicher Liebe wieder abtragen“.
Auch in Europa wolle sich Scholz mit seiner Bundesregierung dafür einsetzen, dass die Rahmenbedingungen der Chemieindustrie „immer im Blick bleiben“. Es dürfe „nicht zu mehr Bürokratie aus Brüssel“ kommen, und die Chemieindustrie müsse in Europa einen guten Standort haben.
Scholz zu umstrittenen PFAS-Chemikalien: „Unverzichtbar“
Als Beispiel nennt der Kanzler die Debatte um die Chemikaliengruppe „PFAS“ – eine Abkürzung für per- und polyfluorierte Chemikalien. Diese Stoffgruppe umfasst nach letzten Schätzungen laut Bundesumweltministerium mehr als 10.000 verschiedene Stoffe. PFAS kommen nicht natürlich vor und werden erst seit den späten 1940ern hergestellt und eingesetzt. Sie sind wasser-, fett- und schmutzabweisend sowie chemisch sehr stabil. Man spricht deshalb auch von sogenannten „Ewigkeitschemikalien“. Aufgrund ihrer Eigenschaften werden sie in vielen Verbraucherprodukten wie Kosmetika, Kochgeschirr oder Textilien eingesetzt, außerdem zur Oberflächenbehandlung von Metallen und Kunststoffen oder in Pflanzenschutzmitteln.
Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) hatte sich dafür ausgesprochen, die ganze Stoffgruppe der PFAS grundsätzlich zu überprüfen und die gefährlichen Stoffe zu verbieten. Bundeskanzler Scholz betont nun bei seinem Besuch auf dem Evonik-Werksgelände, PFAS seien „noch nicht komplett ersetzbar“, sondern „unverzichtbar“ für eine moderne Industrie und beispielsweise die Solarenergie. „Deshalb werden wir darauf drängen, dass es einen pragmatischen Weg gibt“, sagt Scholz. Bei Evonik kommt diese Botschaft gut an. Er sehe darin „eine klare Hinwendung zur chemischen Industrie“, urteilt Evonik-Chef Kullmann.
Noch im Beisein des Kanzlers spricht Kullmann „die Damen und Herren von der Presse“ direkt an und erinnert an einen Besuch, den es erst vor wenigen Monaten bei der „Rheticus“-Anlage in Marl gab – und zwar von Willem-Alexander, dem König der Niederlande. „Mal ganz ehrlich“, sagt Kullmann, „vor einiger Zeit war der König da, der König der Niederlande – und jetzt der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Das ist eine steile Kurve nach oben.“
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