Essen. Rechtsruck verhindert das unbeschwerte Wir-Gefühl von 2006 bei dieser EM. Schade. denn unsere Farben stehen für alles, was die AfD nicht will.

Deutschland könnte ein neues Sommermärchen gut gebrauchen. Und sportlich hätte der Auftakt nicht besser laufen können: Nach dem 5:1 der deutschen Nationalmannschaft gegen Schottland lagen sich wieder wildfremde Leute auf den Fanmeilen in den Armen, vereint in Schwarz-Rot-Gold. Und doch ist etwas grundlegend anders: Der oder die ein oder andere wird sich schon gefragt haben, ob der Nebenmann mit der Fahne in der Hand das gleiche Deutschland meint. Und ob er sich über das Tor von Musiala genauso gefreut hat wie über das von Wirtz.

Es war mitten in der schlimmsten Massenarbeitslosigkeit, die Deutschland je erlebt hat, als die WM 2006 uns nicht nur ein paar schöne Fußballwochen bescherte, sondern etwas viel wertvolleres, in der Bundesrepublik völlig Neues: einen unverkrampften Patriotismus, in den man ohne Störgefühle und Nebengeräusche eintauchen konnte. Eine leichte Art, stolz sein zu dürfen auf Schwarz-Rot-Gold. Das Volk machte sich locker - und die Welt dachte: endlich!

Wir sind für viele in Europa wieder die hässlichen Deutschen

2024 soll das nächste Sommermärchen bringen. Der DFB, die öffentlich-rechtlichen Sender, die bei der Europawahl frisch gerupften Regierungsparteien: Sie wollen es so so sehr. Kein Vorbericht, der nicht die Wiederholung des ausgelassenen Volksfestes aus 2006 heraufbeschwört. Doch mit Märchen ist es wie mit Wundern: Sie geschehen, sie lassen sich nicht herbeireden. Stattdessen ist das Volk gespalten wie wohl noch nie in der Bundesrepublik, nationale Denke mehr denn je ein Politikum, keine Leichtigkeit mehr nirgends. Wenn im Vorbericht auf die EM ein Fan mit schwarz-rot-goldenen Wangen „Schlaaaand“ in die Kamera brüllt, kommt eher Sorge vor falschen Tönen in den Stadien auf: Hat da jemand vorher „Alles für ...“ gerufen, wie es der verurteilte AfD-Rechtsaußen Björn Höcke so gerne macht?

Dass AfD-Landeschef Björn Höcke nicht gewusst habe, woher die verbotene SA-Parole „Alles für Deutschland“ stammt, glaubte das Landgericht in Halle an der Saale dem Geschichtslehrer nicht.
Dass AfD-Landeschef Björn Höcke nicht gewusst habe, woher die verbotene SA-Parole „Alles für Deutschland“ stammt, glaubte das Landgericht in Halle an der Saale dem Geschichtslehrer nicht. © IMAGO/dts Nachrichtenagentur | IMAGO/dts Nachrichtenagentur

2006 waren die Deutschen stolz auf ihr Land, aber vor allem auch auf sich selbst: Sie hatten der Welt eine Seite gezeigt, die sie noch gar nicht kannte von den „Krauts“: Ein bunter Haufen bestgelaunter Feierbiester, die sich nicht von Andersfarbigen absonderten, sondern sich in Runden mit vielen verschiedenen Trikots mischten und ihr Bier mehrsprachig tranken.

Jene, die Begriffe wie „Volk“ und „Nationalstolz“ zurück in die ganz rechte Ecke gezogen haben, wollen das Gegenteil: Sie wünschen sich ein Europa des Nebeneinanders und Gegeneinanders. Die AfD will den Euro und die EU abschaffen, in dessen Parlament sie sich hat wählen lassen. Sie will die europäische Demokratie von innen abschaffen wie einst Hitler die deutsche. Und weil ein Höcke sich rhetorisch bei der Sturmabteilung (SA) der NSDAP bedient und AfD-Spitzenkandidat Krah die SS verharmlost, haben sogar Europas Rechtsaußen die AfD als zu radikal befunden und aus ihrer Fraktion geworfen.

Wie soll eine gespaltene Gesellschaft sich locker machen?

Wir sind wieder wer in Europa. Wir sind wieder die hässlichen Deutschen, zumindest der rechte Rand von uns. Und weil der sich in Ostdeutschland und auch in einigen Ruhrgebietsstädten mit Macht Richtung Mitte der Gesellschaft reckt und streckt, ist der neue deutsche Nationalismus längst keine Randnotiz mehr, sondern ein politisches Gewicht, das immer schwerer wiegt im Umgang mit unseren europäischen Freunden.

Keine gute Voraussetzung für ein neues Sommermärchen mit unverkrampftem Patriotismus und Feiern mit einem Schuss Selbstironie. Ein kollektives „Jetzt erst recht“ wäre die richtige Reaktion. Doch die Rückkehr zur Unverkrampftheit lässt sich nicht erzwingen, wer das versucht, krampft schon. Wie soll das auch gehen? Im Januar sind Millionen Menschen in Deutschland auf die Straße gegangen und haben „Nazis raus“ gerufen. Zum AfD-Parteitag in zwei Wochen in Essen werden Abertausende Gegendemonstranten erwartet. Wie soll sich das Volk in einem derart aufgeheizten politischen Klima locker machen?

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Dabei gibt es sehr gute Gründe, sich die schwarz-rot-goldene Flagge von den Blauen zurückzuholen. Wenn ein Höcke sie über seinen Stuhl hängt, müsste sie eigentlich von allein davonwehen. Denn Schwarz-Rot-Gold steht für Demokratie, Liberalismus, Meinungs- und Pressefreiheit, für echte Teilhabe des Volkes und die Macht der Vernunft. Studenten, Professoren, Kaufleute und Handwerker haben dafür gekämpft und dazu schwarz-rot-goldene Fahnen zu Zehntausenden hochgehalten – im Mai 1832 auf dem Hambacher Fest. Darunter mischten sich die Nationalflaggen der ebenfalls zahlreich erschienenen Franzosen und Polen, man könnte sagen, sie waren „zu Gast bei Freunden“, um mal das Motto der WM 2006 ins Spiel zu bringen. 1832 war die Anfangszeit dessen, was Historiker den „europäischen Völkerfrühling“ nennen.

„Zu Gast bei Freunden“: Dafür stand Schwarz-Rot-Gold bereits 1832

Mit derlei Verbindendem konnten die Nazis nichts anfangen, Hitler schaffte das auch im Kaiserreich und der Weimarer Republik genutzte Schwarz-Rot-Gold wieder ab und pappte sein Hakenkreuz auf die preußische, schwarz-weiß-rote Trikolore, die für die deutsche Großmannssucht steht. Sich schwarz-rot-golden zu schminken, Fähnchen aus dem Fenster zu hängen und den Rückspiegeln Socken überzuziehen, wäre demnach ein Statement gegen die radikale Rechte. Doch die AfD schmückt sich selbst mit den Farben der rebellischen Intelligenz des frühen 19. Jahrhunderts und überlässt die Preußenflagge ihren treusten Anhängern, den Neonazis. Dass sich beide Flaggen gegenseitig ausschließen, ist einer jener Fakten, für die kühl kalkulierende Populisten Alternativen finden.

Und wollen wir beim Fußball mit Fähnchen und Schminke politische Botschaften senden? Gerade das eben nicht. Das Sommermärchen 2006 bestand ja darin, „Deutschland, Deutschland“ ohne Nebengeräusche rufen zu können, den historisch belasteten Nationalstolz seiner Ideologie entkleidet zu haben. Unseren niederländischen Freunden gezeigt zu haben, dass nicht nur sie in der Kneipe und im Stadion wie selbstverständlich Farbe bekennen.

Slogan im Jahr 2006: „Die Welt zu Gast bei Freunden“.
Slogan im Jahr 2006: „Die Welt zu Gast bei Freunden“. © picture-alliance/ dpa | Gero Breloer

Natürlich: Wenn die deutsche Mannschaft und das Wetter weiter mitspielen, kommt auch in diesem Sommer Euphorie auf. Und die Brauereien erhalten ihre ersehnte Sonderkonjunktur – dafür werden Briten, Niederländer und Polen schon sorgen. Ob sie sich „zu Gast bei Freunden“ fühlen? Die Ukraine spielt auch mit. Die mehr als eine Million vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Deutschland geflohenen Landsleute fühlen sich nicht immer willkommen. Zum Beispiel wenn sie zusehen müssen, wie die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht ihrem Präsidenten Selenkyj im deutschen Bundestag die kalte Schulter zeigen.

Das beste für die EM-Stimmung wäre eine vorgezogene Sommerpause der Politik

Das beste für eine gute EM-Stimmung wäre eine vorgezogene Sommerpause der Politik. Doch die hofft besonders auf ein Sommermärchen, will sich darin sonnen. Wenn Angela Merkel es geschafft hat, auf der Tribüne ihr Teflon-Image abzulegen und beim Jubel schweißnasse Achseln freizulegen, dann besteht sogar für den Scholzomaten Hoffnung auf Vermenschlichung.

Was bleibt, sind die großen Probleme dieser Zeit, an deren Lösung Merkel und bisher auch Scholz gescheitert sind, die sie und ihre Parteien eher noch verschlimmert haben. Mit der Grenzöffnung für Kriegsflüchtlinge und ihrem „Wir schaffen das“ hat Merkel 2015 zwar noch einmal viele Menschen in Deutschland stolz gemacht, weil sie wie die Kanzlerin das Land gerne als weltoffen, gastfreundlich und human präsentierten. Doch noch mehr waren und wurden skeptisch, im Nachhinein begann damit Aufstieg und Radikalisierung der AfD.

Merkels „Wir schaffen das“ war ein ungewollter Wendepunkt

Denn es gab gute Gründe, daran zu zweifeln, ob wir so viele Menschen nicht nur aufnehmen, sondern auch integrieren könnten. Schließlich hat Deutschland das noch nicht einmal bei der ersten Zuwanderer-Generation, den Gastarbeitern geschafft. Nicht unter Schmidt, nicht unter Kohl, Schröder, Merkel und Scholz. Es waren die Volksparteien CDU und SPD, die in Bund und Ländern an dieser so wichtigen Aufgabe gescheitert sind und heute über Milieubildung in prekären Stadtteilen klagen.

Was viele Deutsche mit den Zuwanderern der ersten Stunde und ihren Familien verbindet, ist die gemeinsame Skepsis gegenüber allen weiteren Zuwanderern. Die Wirtschaft braucht sie, würde ohne Menschen mit Migrationshintergrund von einer auf die andere Sekunde völlig zusammenbrechen, Krankenhäuser und Altenheime müssten als erstes schließen. Doch große Teile der Gesellschaft haben Sorge, dass mehr Zuwanderung das Zusammenleben weiter erschwert statt einfacher macht.

Das Eigenleben der deutschen Bürokratie verhindert die Integration

Die Integration in den Arbeitsmarkt erschwert die deutsche Bürokratie mehr als dass sie sie fördert. Erst der Sprachkurs, dann die Berufsanerkennung, dann die Nachqualifikation – nicht aus der EU stammende Fachkräfte können sich erst nach Jahren einbringen. Sie leben in Deutschland bis dahin zwangsläufig am Rand der Gesellschaft, mit allen Gefahren abzurutschen, die das mit sich bringt. Die Arbeitsagenturen verzweifeln an den Ausländerämtern, die Bürokratie bremst die anderen aus. Geschaffen haben sie die etablierten Parteien, nicht die AfD. In keinem Koalitionsvertrag fehlt der Wille der Entbürokratisierung. Doch die Behördenapparate, auch in den Ministerien, haben längst ihr Eigenleben, das sie zu bewahren trachten.

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Und wenn ihm Probleme über den Kopf wachsen, neigt der Mensch dazu, sie zu verdrängen oder gleich durch den Gedächtnisschredder zu jagen. Das gilt auch für die größte Herausforderung unserer Zeit, den Klimawandel. Weil der sich nicht mal eben stoppen lässt und alle Bemühungen in eine ferne Zukunft einzahlen, überlagern unpopuläre Nebenwirkungen wie die Verbote von Verbrennerautos oder Ölheizungen die Fortschritte, von denen erst die kommenden Generationen profitieren.

AfD: „Blüte des Lebens“ durch den Klimawandel

Was Populisten daraus machen? Sie schaffen Alternativen zu den Fakten. CO2 sei gut für die Pflanzen, belehrt uns die AfD in ihrem aktuellen Wahlprogramm. Die Erde werde durch den Klimawandel grüner, Warmzeiten hätten „immer zu einer Blüte des Lebens und der Kulturen“ geführt. Statt dagegen anzukämpfen solle man sich lieber damit arrangieren und die Vorteile der Erderwärmung sehen. Das ist, als würde man den überschwemmten bayrischen Dörfern sagen: Wasser ist gut für Pflanzen, Euch steht eine gute Zeit bevor.

Dass durch den Klimawandel große Teile der Erde unbewohnbar werden und unvorstellbare Flüchtlingsströme nach Europa ziehen würden, erwähnt die AfD nicht. Wahrscheinlich wünschen die Rechtsnationalisten sich genau das, von Flüchtlingsproblemen leben sie bisher ja ganz gut.

Wehe, wenn in der Halbzeit über Politik gesprochen wird

Was das mit der EM zu tun hat? Nichts. Aber eine Menge mit unserer Unfähigkeit, ein zweites Sommermärchen mal eben aus dem Ärmel zu schütteln. Die Leute freuen sich auf die Spiele, auf die Abwechslung. Aber wehe, in der Halbzeit wird über anderes als Fußball geredet. Das Zaudern der etablierten politischen Kräfte bei den existenziellen Fragen dieser Zeit hat die Rechtspopulisten und ihre braunen Unterstützer nach oben gespült, die in Ostdeutschland andersdenkende Politiker und Journalisten jagen. Es hat aus Politikverdrossenheit Politikablehnung werden lassen und die Gesellschaft tief gespalten.

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Die einen verachten den rechten Rand, der bald ein Fünftel des Wahlvolks repräsentiert, die anderen verachten den Mainstream und sehen sich als nationale Avantgarde, die selbst Jungschnösel auf Sylt „Ausländer raus“ singen lässt. Und angesichts der anderen Krisen und Kriege um uns herum verlieren viele Menschen die Zuversicht, dass sich alles zum Guten wendet.

Die deutsche Gesellschaft ist tief gespalten, weil sie zu lange weggeschaut hat

Vielleicht, und es wäre ihnen zu gönnen, schaffen es viele Menschen in Deutschland, das alles für ein paar Wochen auszublenden und einfach gemeinsam den Fußball zu feiern. Ganz sicher unter Freunden im kleineren Kreis und hoffentlich auch beim Public Viewing. Aber gewiss nicht in der nationalen Geschlossenheit und mit der Leichtigkeit von 2006. Die haben wir uns durch zu langes Wegschauen nehmen lassen.

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