Essen. BKK-Studie: Klimawandel verursacht mehr Hitzekollapse, Dehydrierungen, Borreliose, Heuschnupfen und Hautkrebs. Was Kassen und Mediziner fordern.
Dass der Klimawandel bereits heute verheerende Folgen zeitigt, ist mit den jüngsten Unwetterkatastrophen in Deutschland und Amerika auf dramatische Weise sichtbar geworden. Nach Hurrikan „Ida“ in den USA rief US-Präsident Joe Biden die „Alarmstufe Rot“ aus, der Klimawandel sei „eine existenzielle Bedrohung für unsere Leben, für unsere Wirtschaft“. Doch auch abseits bildgewaltiger Katastrophen geht die Erderwärmung längst auf unsere Gesundheit und verursacht hohe Kosten. „Drastische Steigerungsraten klimasensibler Erkrankungen“ hat eine neuartige Studie des BKK-Landesverbands Nordwest ergeben, die unserer Redaktion exklusiv vorliegt.
Die Betriebskrankenkassen haben erstmals ihre Versichertendaten aus dem vergangenen Jahrzehnt mit Klimadaten abgeglichen und ausgewertet. Die Ergebnisse: Akute Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Austrocknungen vor allem bei älteren Menschen und Kindern, Borrelioseinfektionen, Pollenallergien und Hautkrebsbildungen nehmen mit der Erderwärmung zu. Der Klimawandel macht krank.
In heißen Sommern dreimal so viele Hitzekollapse
Ausgewertet wurden die Fehltage (AU) und Fallzahlen von mehr als zehn Millionen Versicherten in den Jahren 2010 bis 2019. Es war das wärmste Jahrzehnt seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1881, mit vier der fünf heißesten Jahre. Auch die Zahl der Hitzetage über 30 Grad und der tropischen Nächte sowie die Sonnenscheindauer werden im regionalen Abgleich mit den Krankmeldungen berücksichtigt.
Die sogenannten „Hitzeschäden“ von Unwohlsein über Hitzekrämpfe bis zum Kollaps und Hitzschlag sind am deutlichsten dem Temperaturanstieg zuzuordnen: Im Rekordhitzejahr 2018 sowie in den ebenfalls sehr heißen Sommern 2013, 2015 und 2019 stiegen die Krankmeldungen aufgrund dieser Symptome deutlich an: Von April bis September 2019 kamen im Bundesschnitt 102 Fälle (NRW: 91) wegen Hitzeschäden auf 100.000 BKK-Versicherte – dreimal so viele wie 2011. Nach ambulanter Behandlung zog das 120 Fehltage nach sich.
Spargelstecher und Krankenpflegerinnen am häufigsten betroffen
Unter den Berufstätigen erleiden besonders häufig Menschen, die im Freien arbeiten, Hitzeschäden, allen voran Spargelstecher. Aber auch Verkäuferinnen und Pflegekräfte sind überdurchschnittlich oft betroffen. Dirk Janssen, Chef des BKK Landesverbands, führt das auch auf die Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen zurück. „Für Hitzewellen sind Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser oft nicht gut genug gewappnet“, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung.
Die Behandlung eines Hitzepatienten kostete die jeweilige BKK im Durchschnitt 6512 Euro. Was nicht erfasst wird, ist der volkswirtschaftliche Schaden, und der ist laut Matthias Augustin, Arzt und Forscher am Uniklinikum Hamburg Eppendorf, enorm: „Die meisten Fälle werden von der Krankenschein-Statistik gar nicht erfasst, weil die Leute trotz ihrer Beschwerden weiter arbeiten“, sagt er. Doch nehme dann ihre Leistungsfähigkeit und damit die Produktivität ihres Unternehmens dadurch stark ab.
Rekord an Klinikeinweisungen dehydrierter Patienten
In direktem Zusammenhang mit der Zahl der Hitzetage über 30 Grad steht die Zahl der Krankenhauseinweisungen von Patienten mit Flüssigkeitsmangel, der zu Thrombosen, Nierenversagen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen kann. 2018 gab es in NRW mit 17 Hitzetagen über 30 Grad so viele wie noch nie – und mit 1064 Fällen je 100.000 Versicherten auch einen Rekord an Klinikeinweisungen dehydrierter Patienten. Rechnerisch erlitt demnach jeder 100. NRW-Bürger 2018 einen gefährlichen Flüssigkeitsmangel.
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Mit ernsten Beschwerden im Krankenhaus landeten oft Ältere und Linder. „Polymorbide, ältere Patienten sind besonders anfällig, bei den Hitzetoten sehen wir sehr viele Über-80-Jährige“, weiß Klinikarzt Augustin. Im Rekordhitzejahr 2018 wurden früheren Studien zufolge bundesweit rund 20.000 Todesfälle direkt auf Hitzefolgen zurückgeführt.
Mehr Zecken: Borreliose in NRW auf dem Vormarsch
Ebenfalls klar auf den Klimawandel zurückführen lässt sich die stete Zunahme an Borreliose-Erkrankungen. Steigende Durchschnittstemperaturen und vor allem mildere Winter ließen die Zecken sich besser ausbreiten, vor allem in immer nördlichere Gegenden überleben, sagt der Klimaforscher Laurens Bouwer. Er arbeitet am Climate Service Center Germany (Gerics), das 2009 von der Bundesregierung gegründet wurde. Besonders in früher weniger betroffenen Bundesländern macht sich das bemerkbar: In NRW stieg die Zahl der Infektionen im vergangenen Jahrzehnt den BKK-Daten zufolge um glatte 50 Prozent an – auf 330 Fälle je 100.000 Versicherte.
Längere Pollensaison führt zu mehr Heuschnupfen und Asthma
Auch die Zahl der Heuschnupfen-Patienten ist seit 2010 kontinuierlich angestiegen – in NRW um zwölf Prozent auf 157.000 ambulante Fälle im Jahr 2019. Es ist ein langsamer, aber kontinuierlicher Anstieg, den der Mediziner Augustin mit der ebenfalls stetigen Ausweitung der Pollensaison erklärt: „Es fliegen mehr Pollen und sie fliegen länger“, sagt er und nennt die Folgen für die Allergiker: „Es erkranken mehr Menschen. Und wer bereits erkrankt ist, muss mehr Medikamente nehmen und hat ein erhöhtes Risiko, dass sich sein Heuschnupfen zu einer Asthmaerkrankung auswächst.“ Anders als etwa Borreliose oder Hautkrebs lasse sich eine Pollenallergie kaum durch Vorsorge vermeiden.
Neue Volkskrankheit: Mehr Sonnenstunden erhöhen Hautkrebs-Risiko
Am schwersten in direkten Zusammenhang mit der Erderwärmung zu bringen ist die Zunahme der Hautkrebserkrankungen in Deutschland. Die Zahl der Krankmeldungen hat sich in NRW binnen zehn Jahren auf 867 AU-Tage je 100.000 Versicherte fast verdoppelt, die Zahl der ambulant oder stationär behandelten Fälle um 75 Prozent auf 7808 Fälle je 100.000 Versicherten erhöht. Nicht nur die Betriebskrankenkassen sprechen von einer neuen Volkskrankheit. Die Ursachen einer bösartigen Hautveränderung liegen aber meist viele Jahre zurück, entsprechend geht der Anstieg auch nicht mit Hitzeausschlägen in einzelnen Jahren einher.
Mediziner Augustin, selbst Dermatologe, zählt den weißen und schwarzen Hautkrebs aber eindeutig zur Gruppe der klimasensiblen Krankheiten. Denn die steigende UV-Belastung gerade bei sehr hohen Temperaturen bleibe nicht ohne Folgen. „Sehr plausibel“ nennt das auch Klimaforscher Bouwer, weil es immer mehr Sommertage pro Jahr gebe, an denen die Menschen sich im Freien aufhalten. Augustin bringt das so auf den Punkt: „Wenn sich ein Volk auszieht und raus geht, wird sich häufiger weißer und schwarzer Hautkrebs bilden.“ Zumal mit der Erderwärmung auch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich über Europa Mini-Ozonlöcher bilden, durch die UV-Strahlen ungefiltert durchdringen, ergänzt Klimaforscher Bouwer.
BKK: Kitas, Schulen und Kliniken besser vor Hitze schützen
Um die weitere Ausbreitung klimasensibler Krankheiten zu verhindern, fordern Betriebskrankenkassen, Klimaforscher und Mediziner mehr Prävention und vor allem mehr Investitionen in die Gebäude. Einen besseren Hitzeschutz bräuchten vor allem Kitas und Schulen, meint BKK-Nordwest-Chef Janssen. „Da reden wir nicht nur über wärmeabweisende Fenster, sondern über Lüftungssysteme und Gebäudedämmungen.“ Die Bundesregierung habe dafür zwar einen 150-Millionen-Euro-Fonds aufgelegt, doch das sei „ein Tropfen auf den heißen Stein“. Um die Gebäude klimagerecht umzugestalten, brauche es viele Milliarden.
Das müsse auch in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen geschehen, um der Patienten, aber auch der Beschäftigten willen, die ebenfalls oft Hitzeschäden erleiden. Für Kliniken und Altenheime müsse Klimaanpassung ein zwingender baulicher Eckpunkt werden, fordert Janssen. Klinikarzt Augustin bestätigt das nachdrücklich, denn: „Nicht einmal bei Neubauten wird das heute berücksichtigt“, sagt der Arzt und Gesundheitsökonom. Der Investitionsstau auch an den großen Kliniken sei schon jetzt enorm.
30-Milliarden-Investitionsstau an deutschen Krankenhäusern
Für die Krankenhausinvestitionen sind die Länder zuständig. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) geht von mindesten 30 Milliarden Euro Nachholbedarf aus, weil in den vergangenen Jahrzehnten viel zu wenig investiert worden sei. Der erst mit der Flutkatastrophe im Mai populär gewordene Begriff der Klimafolgenanpassung meint genau das: Neben dem Kampf gegen die Erderwärmung durch eine klimaneutrale Industrie müsste schon jetzt viel mehr Geld in die bereits akuten Folgen des Klimawandels investiert werden, um die Bevölkerung zu schützen.
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Klimaforscher Bouwer hat vor allem die Stadtplanung im Blick, hier insbesondere dicht besiedelte Städte mit wenig Grün und viel Asphalt im Blick, wie sie etwa das Ruhrgebiet prägen. Sie hätten sich in den heißen Sommern als „Hitzefallen“ erwiesen, es fehlten Grünanlagen, Windschneisen und Gründächer, die dem entgegenwirken könnten. Gerade klammen Kommunen etwa im Ruhrgebiet fehlt aber das Geld für große Bauoffensiven. Bouwer hält mit längerfristigem Blick dagegen: „Solche Investitionen werden sich später durch die Vermeidung von Hitzefolgeschäden auszahlen.“
„Klimafolgen-Prävention als Überlebensprinzip“
Prävention müsse aber auch bei klimasensiblen Krankheiten deutlich verstärkt werden. Die Menschen sollten sich besser vor Zecken und UV-Strahlen schützen, an heißen Tagen viel mehr trinken. Für ältere, im Zweifel auch demente Menschen könnten digitale Alltagshelfer sinnvoll sein, etwa intelligenten Tassen, die das Signal zum Trinken geben.
Der Mediziner Augustin bringt es auf diesen Punkt: „Klimafolgen-Prävention muss wieder zum Überlebensprinzip werden – so wie vor 200 Jahren, als man im Norden angefangen hat, Deiche zu bauen.“ Ihm ist bewusst, wie schwierig das wird, denn ohne akute Beschwerden vorzusorgen – damit tut sich der Mensch schwer.
Klimaprognose: Neun Hitzetage mehr pro Jahr
Bouwer betont zur Dringlichkeit entschiedener Gegenmaßnahmen, die Klimaprognosen für Deutschland sagten mittelfristig neun zusätzliche Hitzetage pro Jahr voraus, wenn weiter viel Treibhausgas in die Atmosphäre gelange. „Das klingt wenig, ist bei durchschnittlich 4,4 Hitzetagen im gesamten Jahr 2000 aber enorm viel.“ Den bisherigen Rekord mit 20 Hitzetagen gab es 2018.