Paris. Eine Serie von Selbstmorden bei der France Télécom schockiert die Franzosen. Einige Betroffene begründen die Tat mit den Zuständen am Arbeitsplatz. Auch die Gewerkschaften beklagen „brutale Versetzungen“. Ein Mann rammte sich vor den Augen der Kollegen ein Messer in den Bauch.
Das Unfassbare geschieht am späten Freitagnachmittag. Stéphanie (32), Mitarbeiterin in der Mahnabteilung von France Télécom, öffnet das Fenster im vierten Stock in der Pariser Rue Médéric und stürzt sich vor den Augen der entsetzten Kollegen auf den Gehweg. Sie ist zunächst noch bei Bewusstsein, eine Kollegin versucht sie mit einer Decke zu wärmen. Aber zwei Stunden später erliegt die junge Frau im Krankenhaus den schweren Verletzungen. „Die Kollegen waren hysterisch“, berichtete später ein Vertrauensmann der Gewerkschaft.
Messer in den Bauch gerammt
Erst zwei Tage zuvor hatte sich in der Stadt Troyes ein ähnlich schockierender Zwischenfall ereignet. Während einer Abteilungsversammlung rammte sich ein Techniker - ebenfalls in Gegenwart seiner verzweifelten Kollegen - ein Messer in den Bauch. Zum Glück überlebte er den Selbstmordversuch. Erst gut eine Woche davor hatte sich Nicolas G., ein Télécom-Techniker aus Besançon, das Leben genommen.
Was ist nur los bei France Télécom? Seit Februar letzten Jahres sind schon 29 Mitarbeiter freiwillig in den Tod gegangen, hinzu kommen 14 versuchte Selbstmorde, zuletzt am Montag in Metz. Allein neun Selbstmorde passierten in diesem Sommer. Das schreckliche Wort von der Suizid-Epidemie macht in Frankreich die Runde.
Arbeitgeber verweist auf private Probleme
Zunächst versuchten sich die Verantwortlichen des französischen Telefonriesen aus der Affäre zu ziehen, indem sie achselzuckend darauf hinwiesen, dass die betrüblichen Vorfälle wohl eher auf private Probleme einzelner Mitarbeiter zurückzuführen seien. Doch seitdem feststeht, dass jeder dritte Selbstmord wohl auf unerträglichen Stress am Arbeitsplatz zurückzuführen ist, stehen die Télécom-Bosse öffentlich am Pranger.
Arbeitsminister Xavier Darcos hat den FT-Vorstandsvorsitzenden Didier Lombard zu einem Krisengespräch ins Ministerium zitiert. Und Letzterer versprach dann auch, „die höllische Selbstmordspirale durchbrechen zu wollen“. Ähnlich wie die Deutsche Telekom ist der frühere französische Telefonmonopolist privatisiert, aber der französische Staat ist immer noch Mehrheitsaktionär.
Proteste gegen den "terreur"
Bei vielen der 180.000 Beschäftigten liegen unterdessen die Nerven blank. Am vergangenen Donnerstag gingen sie in Paris, Marseille, Troyes, Besançon, Nancy, Nizza und Montpellier auf die Straße, um gegen die ihrer Ansicht nach miesen Arbeitsbedingungen zu protestieren. Auf Spruchbändern beklagten sie den „terreur“ und forderten ihre Bosse auf: „Stoppt das Leiden bei der Arbeit“.
Seit der Privatisierung 1988 wird der FT-Konzern, zu dem auch das führende Mobilfunkunternehmen Orange zählt, systematisch auf schlank getrimmt. Nach Rekordverlusten Anfang 2001 konnte der Konzern schließlich 2006 einen satten Nettogewinn von fast 6 Milliarden Euro vermelden. Die Schattenseite: Seit 1996 mussten 70.000 Beschäftigte dem Unternehmen den Rücken kehren, allein 20.000 gingen in den letzten drei Jahren. Die Gewerkschaften kritisieren den rigorosen Stellenabbau als eine „menschliche Entsozialisierung“.
Ständige Versetzungen
In erster Linie gehen den Mitarbeitern die „brutalen Versetzungen“ an die Nieren. Télécom-Gewerkschafter Pierre Morville fühlt sich dabei ans Militär erinnert. „Von einem Tag auf den anderen eröffnen sie dir, dass du jetzt 50 oder 100 Kilometer entfernt arbeitest“, sagt er der „Libération“. „Sehr symptomatisch“ sei deshalb der Fall des jüngsten Selbstmordopfers. In den letzten Monaten war die junge Frau dreimal von Umstrukturierungen betroffen – nach Ansicht des Gewerkschafters zu viel für die ohnehin psychisch labile Kollegin. In dem eigens aufgelegten FT-Programm „It’s time to move“ erklären sich besonders robuste Kollegen damit einverstanden, alle drei Jahre die Abteilung oder den Einsatzort zu wechseln.
Die Konzernführung von France Télécom hat inzwischen Sofortmaßnahmen angekündigt. So sollen zusätzliche Betriebsärzte eingestellt und die Personalabteilung mit 100 Spezialisten aufgestockt werden. Ferner kündigte Télécom-Chef Didier Lombard einen Versetzungsstopp bis Ende Oktober an. Damit sich verzweifelte Mitarbeiter einem Psychologen anvertrauen können, richtet das Unternehmen ein „Grünes Telefon“ ein. Am anderen Ende sitzt ein unabhängiges Expertenteam, das anonym hilft. In dutzenden Betriebsversammlungen im ganzen Land wollen die Télécom-Vorstände im direkten Gespräch mit den Mitarbeitern demonstrieren, dass sie ein offenes Ohr für deren Sorgen haben. „Die France Télécom im Dezember wird nicht mehr die France Télécom von heute sein“, sagte Lombard.
Für Michel aus Marseille, einen 51 Jahre alten Télécom-Beschäftigten, kommt diese Hilfe hingegen zu spät. Als der Mann Mitte Juli aus dem Leben schied, hinterließ er einen erschütternden Abschiedsbrief: halb Aufschrei, halb Anklage. Wörtlich heißt es darin: „Ich begehe Selbstmord wegen meiner Arbeit bei France Télécom, das ist der einzige Grund. Bei der Arbeit ist man überfordert, es gibt keine Fortbildung und das Management terrorisiert einen.“