Brüssel. Als Reaktion auf die von Russland verursachte Gaskrise wollen etliche Länder wieder Atomreaktoren bauen: Neben den Schweden planen Polen, Tschechien, Italien, Frankreich und Großbritannien neue Anlagen. Und in Deutschland nimmt die Debatte um längere Akw-Laufzeiten wieder Fahrt auf.

Folgt auf die jüngst von Russland und der Ukraine verschuldete Gaskrise in Europa nun der Startschuss für einen gewaltigen Ausbau der Atomkraft? Eine eindeutig positive Antwort auf diese Frage gaben nun Vertreter europäischer Stromkonzerne, Reaktorbauer, Diplomaten und Politker bei einem nichtöffentlichen Treffen im Brüsseler Palais Egmont, darunter Gäste aus Frankreich, Großbritannien, Tschechien, Polen, Bulgarien, der Slowakei, Litauen, Italien und Deutschland. Nach Schwedens jüngstem Signal, den Atomaustieg rückgängig zu machen, kündigte für Polen Maciej Wozniak, Energiechefberater von Ministerpräsident Donald Tusk, den Atom-Einstieg an. Polen werde erstmals „mindestens zwei“ grosse Atomkraftwerke bauen. Sie sollen in den Jahren 2020 und 2023 ans Netz gehen mit insgesamt 6000 Megawatt Leistung.

Neue Atompläne allerorten

Für Überraschung sorgte auch Tschechien. Die Regierung in Prag wolle langfristig „50 bis 60 Prozent“ seines Stromverbrauchs aus Atomkraftwerken gewinnen, und die AKW-Strommenge dazu von heute 22 auf langfristig 44 Terrawatt-Stunden (TWh) steigern. Entsprechende Kalkulationen legte Roman Portuzak vor. Die Pläne seien aber noch nicht besiegelt. Portuzak ist Chef der Abteilung Stromversorgung im tschechischen Wirtschaftsministerium.

Am Rande der Elite-Konferenz, ausgerichtet vom französischen Institut für Internationale Beziehungen (IFRI) im Palais Egmont, hieß es, Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy habe grünes Licht gegeben, noch ein drittes, neues AKW vom Typ „Europäischer Druckwasser Reaktor“ (EPR) bauen zu lassen. Ein erster EPR befindet sich bereits im Bau in Flamnville, einen zweiten EPR hatte Sarkozy erst vor Tagen am 30. Januar angekündigt. Der zweite EPR soll am Ärmelkanal bei Dieppe errichtet werden. Von einem dritten EPR-Bau in Frankreich geht man beim US-Kraftwerkskonzern Westinghouse aus. Das sei aus einem Deal zwischen Sarkozy und zwei französischen Energiekonzernen, darunter Gaz de France, hervorgegangen.

Auch in Großbritannien werden französische Reaktorbauer (EdF oder Areva) neue Atomkraftwerke bauen, nachdem die britische Regierung grünes Licht gab. Tage vor der IFRI-Konferenz hatte auch der EU-Ratspräsident und tschechische Regierungschef Mirek Topolanek öffentlich verkündet, Europa müsse seine Abhängigkeit von (russischem) Öl und Gas senken, das gelinge aber „nicht ohne Nuklearenergie“. Vor Tagen gab es ein weiteres Ereignis mit Signalwirkung: Im Europäischen Parlament stimmte eine Mehrheit der EU-Abgeordneten für „einen Investitionsfahrplan für die Kernenergie“, wie es die CSU-Abgeordnete Angelika Niebler zufrieden vermerkte. Diesen Schachzug hat die Französin Anne Laperrouze vorbereitet, eine Verfechterin der Atomkraft und EU-Abgeordnete der Liberalen. Grünen-Politiker wie Rebecca Harms fürchten nun eine erneute Subventionswelle für die Nuklear-Branche. „Ohne Milliardenhilfen aus staatlichen Kassen“ würde es keine neuen Reaktoren geben, ist Harms sicher.

Auch Francesco Giorgianni, Kommunikationschef des größten italienischen Energiekonzerns Enel, geht davon aus, dass sein Land Italien den Atom-Ausstieg rückgängig machen und AKWs bauen werde. Ein Teilnehmer im Palais Egmont stellte jedoch sogleich die Frage, mit welcher Reaktortechnik Italien diese AKW denn bauen wolle. Die von Italien vorgelegten Reaktoranforderungen ließen nur einen Zuschlag für ein Konsortium unter dem japanischen Technologiekonzern Hitachi zu. Igor Tomberg vom Moskauer Institut für Internationale Beziehungen beschrieb vor den europäischen Gästen im Palais, wie gravierend der Öl- und Gaspreisverfall sein Land treffen werde. Von 200 Dollar pro 1000 Kubikmeter Gas werde der Preis auf 85 bis 90 Dollar rutschen, dem jeweils rund 100 Dollar Transportkosten und Steuern zuzurechnen seien. Um mehr Gaslieferungen in den Westen (und russische Staatseinnahmen) zu sichern, wolle Russland neue Atomreaktoren ans Netz bringen und heimische Energiepreise zwecks Gas-Spareffekt heraufschrauben, erläuterte Bulat Nigmatullin, Vizechef des Moskauer Instituts für natürliche Monopole. Der Slogan „Renaissance der Atomenergie“ hatte bei der hochrangig besetzten IFRI-Jahreskonferenz „Investieren in Europas Energiezukunft“ Hochkonjunktur. Auch William C. Ramsay, Ex-US-Botschafter und Vize-Chef der Internationalen Energie Agentur (IEA), sagte: „Wir sind gut unterwegs in eine nukleare Renaissance“.

Längere Laufzeiten für deutsche Akw?

In Deutschland hat Schwedens Abkehr vom Atomausstieg unterdessen den Streit über längere Laufzeiten für Kernkraftwerke neu entfacht. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla kritisierte, die SPD sei mit ihrer «bedingungslosen Ausstiegspolitik nicht mehr auf der Höhe der Zeit und mittlerweile auch international völlig isoliert». Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) konterte, «massive Bedenken» gegen eine Reihe von Atomkraftwerken sprächen gegen längere Laufzeiten.

Das Wirtschaftsministerium bestätigte am Samstag einen «Focus»-Bericht, wonach sich Infineon-Aufsichtsratschef Max Dietrich Kley, der den Aufbau einer einheitlichen Netz-AG für das Stromnetz vorantreibt, jetzt auch um die Kernkraft kümmern soll. Minister Michael Glos (CSU) habe ihm aufgetragen, bei den vier großen Energieversorgern abzuklären, zu welchen Zugeständnissen sie bereit wären, wenn es zu einer Laufzeit-Verlängerung für die Anlagen kommt.

Die Energie-Branche sehe für die heimische Volkswirtschaft einen Vorteil von etwa 250 Milliarden Euro, wenn die 17 Meiler, die in Deutschland noch in Betrieb sind, nicht die beschlossenen 32 sondern - wie international üblich - 60 Jahren laufen dürften. Kley soll die vier Konzerne an einen Tisch bringen und auf eine einheitliche Position der Unternehmen hinarbeiten.

E.ON-Chef Wulf Bernotat sagte dem «Focus», auch Deutschland müsse "vorurteilsfrei und offen über die Frage der Laufzeitverlängerung diskutieren." Kernkraft sei nahezu CO2-frei und erhöhe die Versorgungssicherheit.

CDU-Generalsekretär Pofalla sagte dazu: «Fast alle Länder um uns herum haben die Notwendigkeit der Kernenergie als Bestandteil eines modernen Energiemixes erkannt» - nur die SPD nicht. Auch für Deutschland gelte: «Die ehrgeizigen und richtigen Klimaziele können wir nur erreichen, wenn wir die Kernenergie als Brückentechnologie akzeptieren und sinnvoll einsetzen.»

Bundesumweltminister Gabriel (SPD) warnte, in Deutschland gebe es immer noch kein Endlager für Atommüll. Etwa 2035 liefen aber die Genehmigungen für die dezentralen Zwischenlager aus. Ohne deutsches Endlager werde eine Debatte um die Internationalisierung der Endlagerung losbrechen. «Dann vergräbt Russland den radioaktiven Abfall in den Weiten Sibiriens, und wir haben keinen Einfluss mehr darauf», meinte Gabriel.

Der stellvertretende FDP-Vorsitzende und NRW-Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart sagte, man müsse zunächst eine Verlängerung der Laufzeiten verbindlich mit der Energiewirtschaft vereinbaren. Die Gewinne könnten in eine «Bundesenergiestiftung» zur Erforschung der Nukleartechnik fließen. Er würde, wenn es erhebliche Fortschritte gebe, «einen Neubau von Kernkraftwerken der vierten Generation nicht ausschließen wollen», sagte der nordrhein-westfälische Wissenschaftsminister.

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir unterstrich, bei der Diskussion über längere Laufzeiten gehe es weder um Klimaschutz noch um günstige Energiepreise. «Worum es da schlicht und ergreifend geht, ist, dass alte, abgeschriebene Atomkraftwerke, die de facto Gelddruckmaschinen sind für Unternehmen wie Vattenfall, dass die länger am Netz bleiben sollen.» (mit Material von ap)

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