Bochum. Geothermie soll Kohle und Gas als Wärmelieferant ersetzen. Bochumer Wissenschaftler mahnen zur Eile. Zahlreiche NRW-Kommunen planen den Umstieg.
Die Preise für Öl, Gas und Strom explodieren. Das rückt eine Energiequelle in den Fokus, deren Nutzung bislang zu teuer und zu kompliziert erschien: Erdwärme. Sie ist sauber, unerschöpflich, unabhängig von Wind, Sonne - und Diktatoren. Experten halten das Potenzial der Geothermie für riesig. Prof. Rolf Bracke, Leiter der Fraunhofer-Eichrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie“ (IEG) in Bochum, macht es anschaulich: „Wir sitzen auf einem gigantischen Glutball.“
Die Bundesregierung strebt an, bis 2030 die Hälfte des Wärmebedarfs in den Kommunen aus klimaneutralen Quellen zu gewinnen. Erdwärme spielt hier eine zunehmende Rolle. Sie könne in naher Zukunft in großen Teilen die Heizenergie aus fossilen Quellen ersetzen, ist der Professor für Geothermische Energiesysteme an der Ruhr-Uni Bochum überzeugt. Die geologischen Voraussetzungen seien gerade im Rhein- und Münsterland sowie im Ruhrgebiet nahezu ideal. Im Untergrund von Nordrhein-Westfalen schlummert ein geothermischer Schatz, sind die Forscher überzeugt.
Ein Zeitfenster von zehn Jahren
„Deutschland und auch das Ruhrgebiet verfügen über eine gigantische Fernwärmeinfrastruktur, die heute mit Wärme aus der Stein- und Braunkohleverbrennung, Abwärme aus der Stahlindustrie und aus der Müllverbrennung gespeist wird“, sagt Bracke. Wenn spätestens bis 2038, nach den Vorstellungen der NRW-Landesregierung möglichst schon 2030, keine Kohle mehr verbrannt wird, benötigen Tausende Haushalte und Betriebe Ersatz. Tiefe Erdwärme und – besonders im Ruhrgebiet – die Wärme der Grubenwasser in den stillgelegten Kohlebergwerken kommen dafür infrage. Bracke: „Wir haben jetzt ein Zeitfenster von rund zehn Jahren. Das müssen wir nutzen.“
Und er nennt ein Beispiel für den Zeitdruck: „Wenn das Braunkohlekraftwerk Weisweiler Ende 2029 planmäßig vom Netz geht, fehlt der nahe gelegenen Stadt Aachen etwa die Hälfte des bisherigen Fernwärmebedarfs“, erläutert Bracke. Erdwärme könne diese Lücke ersetzen, sind die Bochumer Experten überzeugt. Das IEG arbeitet daher bereits mit Probebohrungen im Rheinland daran, Hitze aus den Thermalwasser führenden Kalkgesteinsschichten in 4000 Metern Tiefe anzuzapfen.
70 Prozent der Gebäude in NRW geeignet
Die IEG-Forscher wollten es genau wissen und haben sämtliche Gebäude in NRW auf ihre Tauglichkeit für die Nutzung von Erdwärme unter die Lupe genommen – vom Einfamilienhaus über Mietshäuser, Bürobauten, Kitas und Schulen, Gewerbebetriebe, Einkaufszentren bis hin zu Gewächshäusern. Das Ergebnis: 70 Prozent der rund sieben Millionen beheizten Bauten im Land könnten geothermisch klimatisiert werden.
„Das Potenzial der Erdwärme ist groß“, sagt Bracke. Studien der Fraunhofer-Gesellschaft und der Helmholtz-Gemeinschaft haben ergeben, dass tiefe Geothermie mehr als ein Viertel des jährlichen Wärmebedarfs in Deutschland decken könne. Hinzu komme die oberflächennahe Geothermie mittels Wärmepumpen, die derzeit einen Boom erlebt. Insgesamt ließen sich so im Idealfall 60 Prozent des Wärmebedarfs in Deutschland erzeugen.
Bochum zeigt, wie es funktioniert
Hemmschuhe sind derzeit allerdings zu lange Genehmigungsverfahren, fehlende Bohranlagen und Bohrtechniker, mangelndes handwerkliches Knowhow sowie ein Engpass bei den erforderlichen Wärmepumpen. „Das ist der Flaschenhals“, räumt Bracke ein.
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Wie es funktionieren kann, zeigen die Wissenschaftler am Beispiel des Gewerbe- und Wissensquartiers „Mark 51.7“ - das ehemalige Opel-Gelände in Bochum. Dort entsteht direkt über der stillgelegten Zeche Dannenbaum eine moderne Geothermieanlage, die sämtliche Bauten auf dem 70 Hektar großen Areal versorgen soll. Das Grubenwasser in dem vollgelaufenen Bergwerk ist in 800 Metern Tiefe etwa 40 Grad warm. Wärmepumpen heizen es auf eine Netztemperatur von rund 50 Grad auf – genug, um damit den neuen Stadtteil zu beheizen.
NRW-Städte planen den Umstieg
Der Clou dabei: Die bei der Wärmeerzeugung entstehende Kälte - Wärmepumpen arbeiten vereinfacht wie ein Kühlschrank - wird über eine zweite Bohrung wieder in 300 Meter Tiefe gepumpt und dort in kühlem Wasser gespeichert. Im Sommer kann es dann die Gebäude und Rechenzentren kühlen. „Das Bergwerk wird dadurch zu einem thermischen Akku“, erklärt Bracke. Dieser „Wärmebergbau“ könne wegweisend sein für das gesamte Ruhrgebiet, ist der Experte überzeugt.
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Die erste Probebohrung in Weisweiler nahe Aachen bis in vier Kilometer Tiefe soll bereits Ende des Jahres erfolgen. Bis 2028 soll die Stadt mit Erdwärme versorgt werden können. Viele weitere Kommunen wollen dem Beispiel folgen. Ganz konkret planen neben Aachen auch Bochum, Duisburg, Düsseldorf samt Flughafen und Münster, ihre Fernwärmenetze auf Geothermie umzustellen, weiß Bracke. Die fünf Städte gründeten mit dem IEG im März die kommunale „Allianz für Geothermie NRW“, um die Wärmewende voranzubringen. Immer mehr Städte zeigten Interesse an einem Umstieg. „Ich führe beinahe täglich Gespräche mit Vertretern von Stadtwerken und Städten“, erzählt Bracke.
Und auch die Industrie mache sich auf den Weg. Derzeit berät das IEG einen großen Papierhersteller und eine Großbäckerei in der Region sowie einen landwirtschaftlichen Betrieb am Niederrhein, der seine riesigen Gewächshäuser von Gasheizung auf Erdwärme umstellen will. Bracke freut sich: „Wir erleben eine regelrechte Aufbruchstimmung.“
>>>> Großes Fernwärmenetz
In NRW hängen laut Landesstatistikamt knapp 500.000 Haushalte am Fernwärmenetz. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) heizen bundesweit rund sechs Millionen Haushalte mit Fernwärme, etwa 14 Prozent. In den Ballungsräumen ist Fernwärme stärker verbreitet. So liege der Anteil in Berlin und Hamburg bei jeweils rund 36 Prozent.
Erzeugt wird die Wärme bislang vor allem durch Gas (47 %), Erneuerbare Energien (17 %) und Steinkohle (14 %). Deutschland verfügt laut IW mit knapp 30.000 Kilometern über eines der größten Fernwärmenetze in Europa.