Essen. Bei Verdi gibt es Streit über Demokratie und Willkür. Anlass ist die Nominierung der Essenerin Silke Zimmer als Chefin der Fachgruppe Handel.
Mit mehr als fünf Millionen Beschäftigten gehört der Groß- und Einzelhandel zu den größten Wirtschaftsbranchen in Deutschland. Innerhalb der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi soll künftig die aus Essen stammende NRW-Verhandlungsführerin Silke Zimmer den mächtigen Fachbereich Handel führen. Doch hinter den Kulissen ist ein Streit über die Nominierung entbrannt.
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Stefanie Nutzenberger hat seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2011 eine ganze Reihe von Schlachten schlagen müssen: die Schlecker-Pleite, die Krisen bei Karstadt, der Verkauf von Kaiser’s Tengelmann und die Zerschlagung von Real waren dabei nur die gröbsten Brocken. Nun hat die 58-Jährige erklärt, vorzeitig aus dem Bundesvorstand ausscheiden zu wollen. Am Mittwoch kam der Bundesfachbereichsvorstand Handel zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, um über einen Vorschlag für Nutzenbergers Nachfolge abzustimmen.
Silke Zimmer aus Essen soll Verdi-Fachgruppe Handel führen
Das Ergebnis fiel eindeutig aus: 20 der 21 Anwesenden sprachen sich nach Verdi-Angaben dafür aus, Silke Zimmer, Jahrgang 1971, für den Top-Job zu nominieren. Es gab nur eine Enthaltung. Der zweite Kandidat, Orhan Akman, hatte demnach keine Chance – zumal er nach eigenen Angaben bei der Sitzung wegen einer Ikea-Betriebsrätekonferenz verhindert gewesen sei.
„Wir gratulieren Silke zu der breiten Unterstützung und freuen uns“, teilten Verdi-Chef Frank Werneke und Vorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger nach der Abstimmung ihren Gremien mit. Hinter den Kulissen der großen Gewerkschaft scheint es aber zu brodeln. Für den unterlegenen Orhan Akman wurde im Internet eine Petition gestartet. Sie trägt den Titel „Demokratie bei Verdi-Handel ernst nehmen und stärken“ und ist an Werneke, der seit 2019 Verdi-Vorsitzender ist, und Nutzenberger adressiert. Wer die Petition gestartet hat, ist unklar. Auf der Internetseite der Plattform change.org ist abzulesen, dass bereits 500 Unterstützende unterschrieben haben. Darunter sollen dem Vernehmen nach eine Reihe von Betriebsräten sein.
Petition an die Adresse von Verdi-Chef Frank Werneke
„Als Gewerkschaftsmitglieder und Aktive aus verschiedenen Unternehmen, Betrieben und Dienststellen, die ehrenamtliche und betriebliche Funktionen ausüben, sehen wir mit Besorgnis auf die aktuellen Entwicklungen innerhalb von Verdi“, heißt es in der Petition. „Betroffen von verschiedenen willkürlichen Entscheidungen“ sei insbesondere Orhan Akman, Leiter der Verdi-Bundesfachgruppe Einzel- und Versandhandel, und damit der zweite Mann hinter Stefanie Nutzenberger.
Akman, der sich im Gespräch mit unserer Redaktion einmal selbst als „überzeugter Marxist“ bezeichnet hatte und bei mehreren Arbeitskämpfen in vorderster Reihe stand, werde ausgegrenzt, heißt es im Text der Petition. Inzwischen habe Verdi sogar angekündigt, „Abschlussvollmachten von Orhan Akman für Tarifverhandlungen hinsichtlich eines möglichen Widerrufs zu prüfen“.
Orhan Akman: Verdi entfremdet sich von der Basis
Inhaltlich will sich Verdi-Sprecher Jan Jurczyk zu den Vorwürfen nicht äußern. „Ich kommentiere die Belastbarkeit der Vorwürfe im Text der Petition mit dem Votum des Bundesfachbereichsvorstands Handel. Und das war überdeutlich“, sagte er unserer Redaktion auf Anfrage. „Eine solche Petition ist im Hinblick auf die innergewerkschaftliche Demokratie irrelevant und absurd“, so Jurczyk. „Arbeitgeber, Mitglieder oder Nichtmitglieder, Parteigänger jedweder Couleur, wer auch immer – kann sie anonym initiieren, mitstimmen und versuchen, von außen Einfluss zu nehmen. Das geht nicht.“
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Orhan Akman indes bekennt sich zu seiner Kritik am Verdi-Bundesvorstand. „Durch Bürokratisierung und permanente interne Selbstbeschäftigungsprozesse entfremden wir uns von der Basis unserer Mitglieder. Ehrenamtliche kommen bei Verdi immer weniger vor“, sagte er unserer Redaktion. Die Gewerkschaft habe seit ihrer Gründung vor rund 20 Jahren bereits fast eine Million Mitglieder verloren, der Bundesvorstand korrigiere dennoch nicht seinen Kurs.
Auch in der Tarifpolitik verliere Verdi zunehmend an Bedeutung und an Gestaltungskraft. „Mir liegt es daran, eine Debatte über die demokratischen Grundwerte bei Verdi anzustoßen, wie es sich für eine Mitglieder- und Tarifgewerkschaft gehört“, fordert Akman. „Wenn wir wieder mehr lohnabhängig Beschäftigte für unsere Gewerkschaft gewinnen wollen, darf man kritische Kolleginnen und Kollegen nicht rausdrängen“, erklärt er.
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Bis zum Wechsel an der Spitze der Verdi-Handelsorganisation werden aber noch etliche Monate vergehen. Die Bundesfachbereichskonferenz Handel soll erst Mitte April 2023 stattfinden. Folgt das Gremium dem vorliegenden Personalvorschlag, wäre Silke Zimmer bei den Wahlen auf dem Bundeskongress im September 2023 auch für den Verdi-Bundesvorstand nominiert. „Ich stelle mich zur Wahl, weil ich mit meiner Erfahrung und meinem Engagement dazu beitragen möchte, die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen für die bundesweit mehr als fünf Millionen Beschäftigten weiter zu verbessern“, sagte Zimmer unserer Redaktion. „Wir wollen die Herausforderung der Branche positiv im Sinne und vor allem mit den Beschäftigten gestalten, dafür braucht es ein geschlossenes Handeln gegenüber den Arbeitgebern.“